Reich und tot
Letztlich kam es auf die Endabrechnung an. Ziehe acht von dreizehn ab, und es bleiben dir fünf. Diese Zahl galt, bis das Gelübde erfüllt war. Danach konnte er aufhören. Danach war es getan. Dreizehn Lektionen hatte er versprochen. Dreizehn Demonstrationen, dass es keinen Sinn in dieser Welt gab. Weder den Himmel über uns noch die Erde unter uns, wie die Zen-Klassiker lehrten. Dreizehn Demonstrationen,dass Leiden kein Leiden war. Nur die Illusion des Leidens. Mit der Dreizehn war es vollbracht. Dann würde er es nicht einmal mehr genießen, würde wissen, dass auch das nur eine Illusion war, nichts als eine Zerstreuung des Ego. Dreizehn Bräute. Eins plus drei. Vier. Dazu er, der Bräutigam. Vier plus eins.
Fünf Ringe.
Der Zug ruckte wieder an. Eine beschränkt wirkende alte Frau glotzte ihn über den Gang hinweg an, mit einem Gesicht wie ein plattgetretener Fisch.
»Oh, das ist besser«, sagte sie.
Als wollte irgendwer den dementen Scheiß aus ihrem verstopften Hirn hören. Der, der Dennett hieß, gähnte. Der andere, Aston, studierte die Seite mit den Börsenkursen. Als wenn die irgendeine Bedeutung für ihn hätten bei seinem beschissenen Bullengehalt. Abgesehen davon, dass man ab und zu mal zutreten und zwischen fremden Höschen herumstöbern durfte, war der Bullenjob genauso ein Dreck wie jeder andere Angestelltenjob. Ganz kleine Lichter waren die beiden. Absolute Nullen. Am Arsch. Zugedröhnt mit Illusionen. Der Zug wurde wieder schneller. Die Landschaft zog vorbei, platt und immer gleich. Er würde gerne aufs Klo, wenn das erlaubt sei. Dennett starrte ihn düster an.
Puh.
Aston legte seine Zeitung zur Seite, stand auf und ließ ihn raus.
Also los. Aber lass dir nicht den ganzen Tag Zeit.
So sah es in dem Moment aus: Dennett saß immer noch, gähnte immer noch, Johnson stand auf dem Gang, und Aston beugte sich vor, um die Zeitung mitzunehmen, die er draußen vorm Klo lesen wollte.
Bäng!
Erst war es ein dumpfer Schlag. Dann ein Kreischen, Kratzen, Brüllen. Lärm, ohrenbetäubender Lärm. Glas, das in Gesichter spritzte, Metall, das auf Metall traf, eineinziges Biegen und Brechen und Bersten. Die alte Frau schoss wie eine Lap-Tänzerin auf Dennetts Schoß, und der gesamte Waggon schien sich, der Schwerkraft enthoben, von der Oberfläche des Planeten zu lösen. Keine halbe Minute später war Dennett bewusstlos, Aston lag mit einer schweren Gehirnerschütterung unter einem Tisch eingeklemmt, und die alte Dame hatte sich etliche Rippen und das Schlüsselbein gebrochen. Robert Johnson dagegen hatte kaum einen Kratzer abbekommen. Er hielt sich an einer Befestigungsstrebe der gegenüberliegenden Gepäckablage fest und hatte das Gefühl, noch ewig so durchhalten zu können. Der Waggon war auf der Seite gelandet. Ohne groß darüber nachzudenken, ganz seinem Körper und seinem Adrenalin gehorchend, hangelte Johnson sich zur nächsten Tür. Ein junger Bursche vor ihm schob sich bereits durch eine Fensteröffnung hinaus in den Sonnenschein.
Während der nächsten halben Stunde kletterte Johnson etliche Male in den Waggon und wieder hinaus und brachte gut ein halbes Dutzend Fahrgäste in Sicherheit. Als sich die Feuerwehrleute endlich organisiert hatten und wussten, was zu tun war, bestanden sie darauf, dass die unverletzten Fahrgäste für eine schnelle Untersuchung zur Ambulanz hinübergingen und ihnen den Rest der Arbeit überließen. Wenn sie noch keinen Schock oder keine Erschöpfung verspürten, würde sich das womöglich bald ändern. Der entgleiste Zug lag auf einem Feld, das nur ein paar hundert Meter Luftlinie von der Autobahnraststätte Crowby entfernt war. Die Sanitäter hatten ihr provisorisches Behandlungszentrum auf dem Lastwagenparkplatz eingerichtet und untersuchten die Gehfähigen aus Gründen der Effizienz paarweise, so dass sich Johnson zusammen mit einem Sanitäter und demLeiter der Crowbyer Filiale der Alliance-&-Leicester-Bausparkasse in der Untersuchungskabine wiederfand. Anschließend, nachdem sie für gesund und unbeschadet erklärt worden waren, schien es den beiden nur natürlich, zusammenzubleiben. Die Raststätte hatte ihr »Happy-Eater«-Restaurant für die Fahrgäste reserviert, und sie setzten sich an einen Tisch und wurden mit Tee versorgt. Mit einer Dringlichkeit, die wahrscheinlich ein erstes Schocksymptom war, sagte der Bausparkassenleiter, dass er möglichst schnell zurück ins Büro wolle, wenn er die Fahrt schon nicht fortsetzen könne. Richtung Norden war die Autobahn
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