Reid 2 Die ungehorsame Braut
einen Kleiderschrank, der auf der Innenseite seiner Tür einen Spiegel beherbergte. Die Lampen auf den beiden Nachttischchen neben dem Bett waren einfach, verströmten aber ein angenehmes Licht.
Die nackten Dielen zierte ein Teppich mit einem braun-violetten Muster, der sich fast durch den gesamten Raum erstreckte und es Ophelia ermöglichte, sich zwischendurch auch barfuß im Zimmer zu bewegen. Die Wandgemälde zeigten verschiedene Motive, angefangen von spielenden Kindern auf dem Land über eine belebte Straße in einer Stadt und eine traurig dreinblickende Frau bis zu einem Stillleben, auf dem eine Vase zu sehen war, in der eine einsame Blume ihr tristes Dasein fristete.
Gemessen an der Größe des Cottages und der Tatsache, dass es so weit ab von der Zivilisation lag, war die Ausstattung geradezu als luxuriös zu bezeichnen. Ophelia hatte bereits gehört, dass die Lockes mit Reichtum gesegnet waren, jetzt glaubte sie es auch. Nicht, dass es ihr etwas bedeutete. Wenn es nach ihr ginge, konnte Raphael Locke ruhig am Geld der Familie ersticken.
Als sie es nicht mehr aushielt, sprang sie aus dem Bett, riss die Vorhänge zurück und blickte auf die dicken Flocken, die durch die Luft gewirbelt wurden und auf dem Boden liegen blieben.
»Welch ein wundervoller Anblick«, sagte sie ehrfürchtig.
Sadie gesellte sich zu ihr und blickte ebenfalls nach draußen. »Dachte ich mir doch, dass es Ihnen gefällt.«
»Wenigstens bleibt er liegen und bedeckt die Einöde.«
»Die Köchin meinte, im Hochsommer, wenn die Heide blüht, wäre es himmlisch hier. Können Sie sich das vorstellen, überall blühende Heide, so weit das Auge reicht?«
»Könnte in der Tat verlockend sein«, sagte Ophelia, wenngleich sie derzeit keinen Sinn für Blumen hatte, so sehr begeisterte sie das kalte Schauspiel jenseits der Fensterscheibe.
»Wenn es weiter so schneit, sind wir morgen von einem dicken Teppich aus unberührtem Schnee umgeben«, meinte Sadie.
Das interessierte Ophelia schon mehr. »Glaubst du, er bleibt tatsächlich liegen?«, fragte sie aufgeregt.
»So weit nördlich, wie wir sind, bleibt er bestimmt liegen. Soll ich vorsichtshalber die dickere Kleidung doch auspacken?«
Sadie kannte ihre Herrin wie keine andere. Ophelia liebte es, in jungfräulichem Schnee zu wandeln, vorausgesetzt, er war dick genug, dass ihre Fußstapfen nicht den Boden darunter freigaben.
»Pack meinetwegen alles aus«, seufzte Ophelia.
Noch am Abend hatte sie Sadie verboten, alle Kleider aus der Truhe zu holen, überzeugt davon, dass sie ohnehin nicht sonderlich lange bleiben würden. »Wir werden eine Weile hier sein - zumindest einige Tage lang«, fügte sie hinzu, ehe sie sich Sadie zuwandte und die Augen weit aufriss. »Meine Augen sind nicht wirklich gerötet, oder?«
»Klingt, als wollten Sie sich doch wieder in die Höhle des Löwen begeben«, mutmaßte Sadie.
Immerhin widersprach Ophelia ihr nicht. »Raus mit der Sprache. Gerötet, ja oder nein?«
Die Zofe schnalzte mit der Zunge und meinte: »Warum sehen Sie nicht selbst nach. Dort drüben ist ein Spiegel, und er ist nicht Ihr Feind.«
»Sadie«, warnte Ophelia die ältere Frau.
»Nein, sie sind nicht gerötet. Nicht einmal ansatzweise. Leider. Es wäre nicht das Schlechteste, wenn er wüsste, dass Sie geweint haben. Männer mit einem schlechten Gewissen lassen sich leichter um den Finger wickeln.«
Kapitel elf
O bwohl Raphael auf dem Sofa saß, entdeckte Ophelia ihn beim Betreten des Salons nicht auf Anhieb. Stattdessen wurde ihr Blick wie magisch zu den Fenstern gezogen. Mit einem Lächeln registrierte sie, dass es noch immer schneite.
»Fühlen wir uns wieder besser?«, riss Raphael sie aus den Gedanken und legte das Buch, in dem er gelesen hatte, beiseite.
Als Ophelias Blick zum Sofa glitt, fiel ihr Lächeln in sich zusammen. Raphael hatte sich des Gehrocks entledigt, vermutlich wegen des prasselnden Feuers im Kamin. Erst jetzt sah sie, dass auch Esmeralda anwesend war. Sie hatte sich auf einem anderen Sofa niedergelassen. Der Salon war geräumig und beherbergte drei Sofas sowie diverse gemütlich aussehende Sessel. Die alte Frau sah über den Rand ihres Buches zu Ophelia und nickte ihr zu.
»Guten Morgen, meine Liebe. Oder ist es schon Mittag? Vermutlich, denn ich werde langsam hungrig. Ich frühstücke für gewöhnlich nicht, müssen Sie wissen. Das wiederum bedeutet, dass ich ein zeitiges Mittagessen bevorzuge.«
Ophelias Lächeln kehrte Raphaels Tante zuliebe zurück.
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