Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Reif für die Insel

Reif für die Insel

Titel: Reif für die Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
Vom Netzwerk:
nicht über seine Schwelle.
    Wenn mein Bitten und Flehen schließlich zu einer Art hilflosem Blöken verkommen war, seufzte Vince schwer, knallte sich ein Riesenstück Pizza in den Rachen und kam zur Tür. Eine volle halbe Minute steckte er sein Gesicht in meines. Das war immer der enervierendste Teil. Sein Atem roch viehisch, und seine Rattenäuglein glitzerten. »Verdammte Scheive, Vie gehen mir gewaltig auf die Nüvve«, knurrte er leise, besudelte mir das Gesicht mit feuchten Pizzabröckchen und holte dann entweder den Wall-Street-Report oder kehrte in finsterer Stimmung zu seinem Schreibtisch zurück. Das wußte man vorher nie.
    An einem besonders schwierigen Abend meldete ich Vinces Insubordination einmal David Hopkinson, dem Spätredakteur, der selbst eine beeindruckende Figur abgab, wenn er es darauf anlegte. Knurrend erhob er sich, um die Sache klarzumachen, und betrat das feindliche Territorium – überschritt wahrhaftig die Demarka-tionslinie. Aber als er ein paar Minuten später wiederkam, war er ein wenig errötet und ein anderer Mann. Er wischte sich Pizzastückchen vom Kinn und setzte mich mit leiser Stimme davon in Kenntnis, daß Vince den Wall-Street-Report in Bälde bringen würde, es im Moment aber angebracht sei, ihn nicht weiter zu belästigen. Schließlich kam ich auf den Trichter, daß es das einfachste war, die Börsennotierungen der ersten Ausgabe der Financial Times zu entnehmen.
     
    Wenn man sagt, daß die Fleet Street Anfang der Achtziger ein bißchen außer Kontrolle war, zeigt das kaum das wahre Ausmaß der Dinge. Die National Graphical
    Association, die Drucker- und Setzergewerkschaft, entschied, wie viele Leute bei jeder Zeitung gebraucht wurden (Hunderte und Aberhunderte) und wie vielen in einer Rezession gekündigt werden durfte (keinem). Entsprechend instruierte sie die Verlagsleitung. Diese durfte weder Drucker einstellen noch entlassen, ja, sie wußte im allgemeinen nicht einmal, wie viele Drucker sie beschäftigte. Ich habe eine Schlagzeile aus dem Dezember 1985 vor mir: »300 überzählige Drucker und Setzer beim Telegraph.«
    Was heißt, der Telegraph bezahlte 300 Leuten ein Gehalt, die gar nicht dort arbeiteten. Die Setzer wurden nach einem so komplizierten Zuschlagsystem bezahlt, daß jede Setzerei in der Fleet Street ein spezielles Abrechnungsbuch dafür besaß, das so dick wie ein Telefonbuch war.
    Zusätzlich zu den fetten Löhnen bekamen die Setzer nämlich besondere Zuschläge, die manchmal bis zur achten Stelle hinterm Komma bei Pennybeträgen ausgerechnet wurden. Und zwar für Arbeiten mit außergewöhnlichen Schriften, das Setzen stark redigierter Artikel oder nicht-englischer Worte. Wenn Arbeit weggegeben wurde – beispielsweise bei Werbetexten, die nicht im Haus gesetzt wurden –, wurden sie dafür entschädigt, daß sie sie nicht machten. Am Ende jeder Woche rechnete ein Gewerkschaftsmann alle diese Extras zusammen, fügte eine Kleinigkeit für eine praktische Kategorie namens »Erforderliche Extrabemühungen« hinzu und präsentierte der Lohnbuchhaltung die Rechnung. Folglich zählten dienstältere Setzer, die ihr Handwerk nicht besser beherrschten als ihre Kollegen in jeder x-beliebigen Klitsche, zu den zwei Prozent Spitzenverdienern in Großbritannien. Es war der helle Wahn.
    Und ich muß Ihnen ja nicht erzählen, wie alles endete.
    Am 24. Januar 1986 feuerte die Times 5250 Mitglieder der aufsässigsten Gewerkschaften – beziehungsweise tat so, als hätten diese selbst gekündigt. Am Abend dieses Tages wurden wir Redakteure in einen Konferenzraum nach oben gerufen, wo der Chefredakteur Charlie Wilson auf einen Tisch kletterte und die Neuerungen verkündete. Wilson war ein furchterregender Schotte und durch und durch ein Mann Murdochs. Er sagte uns (sinngemäß): »Wirr schicken euch nach Wapping, ihrr verrweichlichten englischen Mutterrsöhnchen, und wenn ihrr sehrr, sehrr harrt arrbeitet und mirr nicht auf den Sack geht, dann schneide ich euch vielleicht nicht die Eierr ab und tu sie in meinem Chrristmaspudding. Noch Frragen?«
    Als 400 Journalisten aufgeregt quasselnd aus dem Raum wankten und mit der Erkenntnis fertigzuwerden versuchten, daß ihnen gerade das größte Drama ihres Arbeitslebens widerfuhr, stand ich allein da, und ein einziger freudevoller Gedanke durchflutete mich: Ich mußte nie wieder mit Vince, dem Tickerwolf, zusammenarbeiten.
     

Drittes Kapitel
     
    Seit Sommer 1986 war ich nicht mehr in Wapping gewesen und wollte es unbedingt

Weitere Kostenlose Bücher