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Reif für die Insel

Reif für die Insel

Titel: Reif für die Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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gingen nach Hause. Es kam einem gar nicht wie Arbeit vor, sehr angenehm. Am Ende des ersten Monats zeigte mir ein Kollege, wie man imaginäre Ausgaben auf einem Spesenabrechnungsblatt festhielt und dieses in den dritten Stock trug, wo man es an einem kleinen Schalter gegen ungefähr 100 Pfund bar auf die Kralle eintauschen konnte – tatsächlich mehr Geld, als ich je in Händen gehabt hatte. Wir bekamen sechs Wochen Ferien, drei Wochen Vaterschaftsurlaub und alle vier Jahre einen Sabbatmonat. Was war die Fleet Street damals für eine wundervolle Welt, und wie freute ich mich, dazuzugehören.
    Etwas so Gutes währt natürlich nicht ewig. Ein paar Monate später übernahm Rupert Murdoch die Times, und binnen weniger Tage wimmelte das Gebäude von geheimnisvollen, braungebrannten Australiern in kurz-ärmeligen weißen Hemden, die mit Klemmbrettern im Hintergrund lauerten und den Eindruck erweckten, sie nähmen bei den Leuten für Särge Maß. Es gibt eine Geschichte, und ich habe sogar den Verdacht, sie ist wahr: Einer dieser Herren schlich sich in ein Zimmer im vierten Stock, das voller Leute war, die seit Jahren keinen Finger gekrümmt hatten, und als diese ihre Anwesenheit nicht überzeugend begründen konnten, feuerte er sie mit einem Schlag bis auf einen glücklichen Burschen, der nur mal schnell im Wettbüro war. Der kehrte in ein leeres Zimmer zurück und verbrachte die nächsten beiden Jahre damit, allein dort zu sitzen und sich zu fragen, was aus seinen Kollegen geworden war.
    Wir erlebten in unserer Abteilung die Effizienz-Offensive weniger traumatisch. Das Ressort, in dem ich arbeitete, wurde einem größeren Wirtschaftsressort einverleibt, was bedeutete, daß ich auch abends arbeiten mußte und nun einen Achtstundentag hatte. Unsere Spesen wurden gnadenlos gekappt. Am schlimmsten aber war, daß ich in regelmäßigen Kontakt mit Vince aus dem Tickerraum kam.
    Vince war berüchtigt. Er hätte es mit Leichtigkeit zum grauenhaftesten Menschen der Welt gebracht, wenn er denn ein Mensch gewesen wäre. Was er war, weiß ich nicht, das heißt, ich weiß nur, daß er ein Meter fünfundsechzig drahtige, pure Böswilligkeit in einem schmuddeligen T-Shirt war. Verläßliche Gerüchte besagten, daß er dem Leib seiner Mutter entsprungen und dann gleich in die städtische Kloake gerutscht war. Zu Vince’ wenigen simplen und selten erfüllten Pflichten gehörte es, uns jeden Abend den Wall-Street-Report zu bringen. Doch jeden Abend mußte ich hingehen und ihn aus ihm herausleiern. Normalerweise fand man Vince in dem summenden Chaos des Tickerraums, das ihn aber nicht weiter kümmerte. Er fläzte sich in einem Ledersessel, den er aus den höheren Etagen hatte mitgehen lassen, seine Doc Martens mit den blutbefleckten Spitzen hatte er auf den Tisch vor sich gepflanzt – neben und manchmal sogar in einer großen offenen Schachtel mit Pizza.
    Jeden Abend also klopfte ich zögernd an die offene Tür, fragte ihn höflich, ob er den Wall-Street-Report irgendwo gesehen habe, und wies ihn darauf hin, daß es nun schon Viertel nach elf sei und wir ihn eigentlich um halb elf haben sollten. Eventuell könne er ja mal unter den Stößen Papier, die unbeachtet aus seinen vielen Maschinen quollen, nachschauen.
    »Weiv nich, ob Vie’v gemerkt haben«, sagte Vince dann, »aber ich evve Pivva.«
    Die Kollegen befleißigten sich alle einer individuellen Herangehensweise an Vince. Manche versuchten es mit Drohungen. Andere mit Bestechung. Wieder andere mit herzlicher Freundschaft. Ich bettelte.
    »Bitte, Vince, könnten Sie ihn mir nicht mal eben suchen, bitte. Es dauert keine Sekunde, und Sie würden mir das Leben kolossal erleichtern.«
    »Leck mich!«
    »Bitte, Vince. Ich habe Frau und Kinder, und man droht mir mit Rausschmiß, weil der Wall-Street-Report immer zu spät kommt.«
    »Leck mich!«
    »Na gut, was halten Sie dann davon, wenn Sie mir nur sagen, wo er ist, und ich hole ihn mir selbst.«
    »Vie dürfen hier niftf anfavven, wie Vie vehr wohl wivven.«
    Der Tickerraum war der Machtbereich einer Gewerkschaft, die den kryptischen Namen NATSOPA trug. NATSOPA behielt die niederen Ränge der Zeitungsindustrie unter anderem dadurch fest in ihrem schraubzwingenartigen Griff, daß sie technische Geheimnisse für sich behielt, zum Beispiel, wie man von einem Fernschreibgerät ein Papier abreißt. Vince war sogar auf einem Sechs-Wochen-Kurs in Eastbourne gewesen. Da hatte er sich völlig verausgabt. Aber wir Journalisten durften trotzdem

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