Reif für die Insel
war, war es geradezu eine Erleichterung, das Auto auf einem Parkplatz in Broadway stehenzulassen und die eigenen Füße zu benutzen.
Als ich den Ort das letztemal an einem August-nachmittag ein paar Jahre zuvor gesehen hatte, war er ein Alptraum aus stehendem Verkehr und Herden einher-schlurfender Tagesausflügler gewesen, aber nun außerhalb der Saison war er abgeschieden und friedlich, die High Street beinahe leer. Broadway ist wunderhübsch mit seinen tief gezogenen Satteldächern, den Flügelfenstern, zahlreichen Giebeln und hübschen kleinen Gärten. Der goldene Kalkstein der Cotswolds hat was. Wie er das Sonnenlicht absorbiert und dann reflektiert, scheinen selbst an den trübsten Tagen Dörfer wie Broadway in einen nie verlöschenden Schimmer getaucht. Der Tag war aber sogar sonnig und strahlend, ein Hauch herbstlicher Frische lag in der Luft, die Welt fühlte sich wunderbar sauber, wie frischgewaschen an. Auf der Hälfte der High Street sah ich einen Wegweiser für den Cotswold Way und nahm stante pede einen Pfad zwischen alten Häusern hindurch. Ich folgte ihm über eine sonnenbeschienene Wiese und den langen Hang hinauf zum Turm von Broadway. Der Blick von dort über das breite Vale of Evesham war, wie immer von solchen Aussichtspunkten, sensationell – sanft gewellte, trapezförmige Äcker, die sich bis zu den dunstigen, bewaldeten Höhen hinzogen. Großbritannien hat immer noch mehr Landschaften, die wie Illustrationen aus einem Kinderbuch aussehen als alle anderen Länder, die ich kenne – eine bemerkenswerte Leistung auf einer solch dicht besiedelten, industrialisierten kleinen Insel. Und dennoch konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß der Blick vor zehn oder zwanzig Jahren lohnender, weil idyllischer gewesen wäre.
Bei einer so zeitlos bezaubernden Landschaft, die so harmonisch in einer uralten Vergangenheit verwurzelt ist, vergißt man leicht, wie rasch sie verlorengehen kann. Natürlich störten auch Hochspannungsmasten, hier und dort Neubausiedlungen und ferne, in der Sonne glitzernde Verbrauchermärkte das Panorama vor mir. Viel schlimmer aber war, daß das dichte, sorgsam geknüpfte Netzwerk von Hecken deutliche Zeichen von Zerrissenheit und Zerfall zeigte, als hätten müßige Finger eine Frottierplüschdecke kaputtgezupft. Schon standen Reste dicht wuchernder Hecken einsam und verloren inmitten ansonsten konturenloser Wiesen.
Wußten Sie, daß England zwischen 1945 und 1985 96000 Meilen Hecken verloren hat – genug, um die Erde viermal zu umgürten? Die Landschaftspolitik der Regie-rung war so konfus, daß die Farmer vierundzwanzig Jahre lang einen Zuschuß zum Heckenpflanzen und einen zum Umgraben bekommen konnten. Zwischen 1986 und 1990 gingen trotz der Tatsache, daß es keine Regierungsgelder mehr zum Heckenumpflügen gab, weitere 53000 Meilen verloren. Oft hört man das Argument (und das weiß ich, weil ich einmal ein dreitätiges Symposion über Hecken besucht habe; so was nehme ich auf mich, damit meine Kinder Reeboks tragen können), daß die Hecken eigent-lich ein vergängliches landschaftliches Charakteristikum seien, ein Relikt aus der Zeit, als die Gemeindeländereien eingefriedet wurden, und daß der Versuch, sie zu erhalten, lediglich die natürliche Entwicklung des Landes hemme. Wahrhaftig hört man immer öfter, daß jedwedes Bewahren engstirnig und rückwärts gerichtet sei und den Fortschritt behindere. Mir liegt ein Zitat von Lord Palumbo vor, der behauptet, daß die ganze, ach so vage Vorstellung von Erbe und Überlieferung »von der Sehnsucht nach dem nichtexistenten goldenen Zeitalter belastet sei, das, hätte es denn existiert, sehr gut der Tod aller Erfindung hätte sein können«. Es bricht mir das Herz, so töricht ist es.
Mal ganz abgesehen davon, daß man als logische Konsequenz dieses Arguments Stonehenge und den Tower of London abreißen müßte, gibt es viele Hecken tatsächlich schon sehr, sehr lange. Ich weiß von einer besonders hübschen Hecke in Cambridgeshire, sie heißt Judith’s Hedge, die älter als die Kathedrale von Salisbury ist, älter als das Münster in York, ja älter als höchstens eine Handvoll Gebäude in Großbritannien, und dennoch gibt es kein Gesetz, das ihre Zerstörung verhindern würde. Wenn die Straße verbreitert werden müßte oder die Eigentümer beschlossen, sie wollten ihren Besitz lieber mit Zaunpfählen und Stacheldraht begrenzen, wäre es nur das Werk einiger Stunden, 900 Jahre buchstäblich lebendiger Geschichte
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