Reinen Herzens
gekrochen. Fluchend, aber gründlich.«
»Schon, aber damals war Hochwasser, und alles grünte und blühte. Jetzt im Winter ist das Wasser wesentlich niedriger, und Bäume und Büsche tragen kein Laub. Wer weiß, was es zu sehen gibt.« Sie wusste sehr gut, dass Jirka recht hatte, aber sie wollte trotzdem hin. Warum auch immer. Raus hier.
»Nichts gibt es zu sehen, meine Liebe, denn überall liegt fast ein halber Meter Schnee. Das ist doch wieder so eine bescheuerte Ersatzhandlung, Magda.«
»Du machst auch ständig Ersatzhandlungen. Oder erledigst du neuerdings deinen Papierkram in der Prosektur? Wie wäre es, wenn du mitkämest? Ein Spaziergang an der frischen Luft würde dir guttun. Du bist ziemlich blass um die Nase.« Sie griff nach der Asservatenschachtel und begann, die Knochen vorsichtig hineinzulegen.
»Ich weiß nicht …«
»Komm schon, in zwei Stunden sind wir wieder zurück, und du kannst dich bis in die Nacht deinem Papierkram widmen. Und ich verspreche, mich um jede Leiche zu kümmern, die wir finden.«
»Danke, ich hoffe, das bleibt uns erspart. Es gibt auch so genug zu tun. Aber meinetwegen.«
Eine halbe Stunde später stiegen sie aus Jirkas Wagen und sahen sich um.
»Da wären wir. Du bist sicher, dass das Bein hier irgendwo gefunden wurde?«, fragte Jirka.
Magda nickte. »Ich habe Ota gefragt, es muss ein Stückchen weiter südlich gewesen sein. Dann sehen wir uns mal um.« Sie machte sich durch den jungfräulichen Schnee auf den Weg nach Süden, so weit möglich immer nahe am Ufer entlang. Magda genoss den Spaziergang, die Bewegung tat ihr gut, ihr Kopf leerte sich auf angenehme Weise, sie fühlte sich fast, als würde sie schweben. Ich verbringe viel zu viel Zeit im Büro, dachte sie, Bewegung in frischer Luft ist eindeutig besser. Sie entließ alle Gedanken aus ihrem Bewusstsein, fühlte nur noch ihren ruhiger werdenden Atem, genoss diesen meditativen Zustand, nach dem sie sich seit Davids Tod so gesehnt hatte, den sie aber, egal, wie sehr sie sich bemüht hatte, nicht zu erreichen imstande gewesen war. Aber David war ja gar nicht tot – vermutlich, hoffentlich.
Jirka folgte ihr unwillig. Er hatte nichts gegen die Natur – vorzugsweise auf hübschen Postkarten. Er war nur durch und durch ein Stadtmensch, in der Stadt geboren, und aufgewachsen in einer Familie von überzeugten Stadtmenschen. Für gelegentliche Spaziergänge gab es seiner Meinung nach Parks mit ordentlich geteerten Wegen, die im Winter ebenso ordentlich geräumt waren. Nie im Leben würde es ihm einfallen, einfach querfeldein durch irgendeine unzivilisierte Landschaft zu laufen. Er war zwar begeisterter Jogger, aber er bevorzugte eindeutig das Laufband in seinem Fitnessklub. Nach knapp fünfhundert Metern hatte er genug.
»Magda, das war eine Schnapsidee. Hier finden wir niemals etwas.« Er blieb stehen und sah sich um. Links von ihnen lag der ruhig dahinfließende Fluss, auf dem große Eisschollen schwammen, mit der Kaiserinsel, deren ehrwürdiger Name nicht recht zu der Tatsache passen wollte, dass sich auf ihr eine Kläranlage befand, rechts eine vierspurige Landstraße, dahinter die Eisenbahnschienen und jenseits davon ein bewaldeter Hügel. Sie bahnten sich ihren Weg durch weit mehr als knöcheltiefen Schnee. »Meine Hosenbeine sind schon nass«, grummelte er. Er hatte den Anzug erst am Tag zuvor aus der Reinigung geholt. Und nun würde er ihn gleich wieder hinbringen können. Als hätte er sonst nichts zu tun.
Magda ignorierte ihn, blieb aber stehen und nahm zum ersten Mal die Umgebung wahr. Es war keine wirklich hübsche Gegend, aber der Schnee und die Sonne machten das Beste daraus. Selbst die Kläranlage auf der Kaiserinsel sah nicht so trostlos aus wie sonst. Sie sog die winterliche Luft ein – und rümpfte gleich darauf die Nase. Abgesehen von dem angenehmen Duft nach Schnee erreichte sie auch der weit weniger angenehme Geruch, der von der Kaiserinsel herüberwehte. Der Geruch und Jirkas Gemaule brachten ihr kurzzeitiges und wohltuend gedankenfreies Hochgefühl zu einem jähen Absturz. Er hatte recht gehabt. So ging das nicht. Selbst wenn sie den genauen Fundort fanden, es gab hier definitiv nichts zu sehen oder zu entdecken. Zwar waren die Büsche kahl, aber der Schnee war ein Hindernis – nicht nur beim Gehen.
»Was ist?«, fragte Jirka. Er hatte mehr als genug von diesem Ausflug. Das einzige Ergebnis bisher waren klatschnasse Hosenbeine, und in seine Schuhe kroch die Feuchtigkeit auch schon
Weitere Kostenlose Bücher