Reise in die Niemandswelt
die Hocke und streckte den Arm aus. Seine Finger berührten die Wasseroberfläche, tauchten ein. Das Wasser war eigenartig warm, warm wie seine eigene Haut. Er schöpfte ein wenig mit der hohlen Hand und führte sie zum Mund.
Dann waren mit einem Mal die Schritte, die bisher in seinem Kopf gepocht hatten, so nah wie nie, und wirklich.
Rhodan wollte sich zur Seite rollen, etwas zu spät. Ein Schlag oder Tritt traf ihn gegen die Schulter, er drohte, ins Wasser zu stürzen. Eine Hand packte ihn, riss ihn vom Fluss fort, schleuderte ihn über den Boden.
Rhodan krallte sich im Gras fest, trat aus, traf den anderen an den Beinen, brachte ihn zu Fall. Eine Mischung aus überraschtem Fauchen, Zorn und Lachen. Rhodan war bereits wieder auf den Beinen, hatte festen Stand gefunden, ging in Abwehrhaltung.
Die Schläge trafen ihn unvermittelt und hart er schützte Kehle und Kopf gegen die Brust, in die Seite, konnte sie aber nicht erwidern. Wohin sollte er schlagen? Sein Gegner war wie ein Schatten. Er spürte, wie sich die Arme des Angreifers um ihn schlossen, ihm die Luft abdrückten.
»Gib auf!«, flüsterte ihm sein Gegner ins Ohr. »Ergib dich mir. Das ist besser für dich. Besser für uns beide.«
Irgendwie gelang es Rhodan, sich aus der Umklammerung zu befreien.
Er stolperte, fiel, hetzte einen oder zwei Meter auf allen vieren davon, sprang auf und rannte.
Das Nächste, was er bewusst wahrnahm, war, dass er sich in einer Art Spiegelkabinett befand. Er keuchte, kam nur allmählich wieder zu Atem. Er atmete mit weit offenem Mund, das Spiegelglas beschlug.
Wer hatte ihn hineingezogen?
Er sah sich um. Auf dem Boden verstreut standen einige Kerzen. Die Wände, sogar die Decke waren aus Spiegelglas.
Er rief sich in Erinnerung, was er über derartige Labyrinthe wusste. Aus mannshohen Spiegeln gebaut, gaukelten sie ihren Gästen endlose Korridore, ausufernde Säle vor, abgründige Raumtiefen.
Zugleich stellten sich die Spiegel den Wandernden in den Weg.
Rhodan richtete sich auf.
»Geht's wieder?«, fragte eine Stimme. Sie sprach Interkosmo mit einem etwas schleierhaften, alteuropäischen Akzent. Rhodan drehte sich um. Da hockte ein Mann im Schneidersitz, vor sich einen Haufen Marionetten.
»Danke!«, sagte Rhodan. »Es geht wieder.« Dann stellte er sich vor.
»Angenehm«, sagte der Mann. »Ich heiße Alfredo. Der Puppenspieler.«
Rhodan nickte. »Sicher ein spannender Beruf«, sagte er.
»Man kommt viel rum«, sagte Alfredo. »Ich war in Russland und in Finnland, ich habe in Alexandria und in Kairo gastiert, und ich habe vor den Soldaten an der Front gespielt. Nach dem Großen Krieg dann vor Kindern mit Greisengesichtern. Sie hatten Feuer und Tod gesehen, aber noch nie das Kasperle.« Er lachte. »Kannst du dir das vorstellen? Feuer und Tod.«
Rhodan schüttelte unwillig den Kopf. Er wollte nicht von Feuer und Tod reden. Was gingen ihn Feuer und Tod an?
»Was tust du hier?«, fragte er den Puppenspieler.
Der Mann legte den Finger verschwörerisch über die Lippen und sagte: »Ich verstecke mich.«
Rhodan lachte. »Da mach ich mit.« Er setzte sich zu Alfredo und streckte die Hand nach den Marionetten aus. »Darf ich?«
Der Puppenspieler lächelte. »Ihre Fäden haben sich etwas verwirrt. Schwer, das wieder hinzubekommen.« Er griff selbst in den Haufen, suchte und hob einer der Puppen den Kopf. Es war ein hölzerner Türkenkopf mit einem kostbar erscheinenden, wunderbar bestickten und mit falschen Perlen und gläsernen Juwelen besetzten Turban.
Mit veränderter Stimme deklamierte der Puppenspieler: »Das Leben nennt der Derwisch eine Reise, und eine kurze. Freilich! Von zwei Spannen diesseits der Erde nach zwei Spannen drunter. Zwar, eine Sonne, sagt man, scheint auch dort, und über bunt're Felder noch als hier: Ich glaub's; nur schade, dass das Auge modert, das diese Herrlichkeit erblicken soll.«
Der Puppenspieler ließ die Puppe sich verneigen; Rhodan applaudierte leise. »Du hast gesagt, du versteckst dich hier. Vor wem?«
»Vor den Schergen«, sagte der Puppenspieler.
»Wessen Schergen?«
Alfredo lächelte. »Vor niemands Schergen. Leider.«
»Niemands Schergen?«
»Wären es irgendjemandes Schergen, bestünde Hoffnung. Hoffnung, dass der Herr der Schergen endlich stürbe und sein Tod die Jagd beendete. Niemands Schergen aber werden nie zurückgerufen, ihr Auftrag niemals annulliert.«
Es überraschte Rhodan nicht, in diesem Augenblick die Schritte wieder zu hören.
»Ich muss gehen«, teilte
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