Reise mit Hindernissen nach England und Schottland
sein Freund und klärte ihn über sein entsetzliches Mißverständnis auf. Wütend stellte Jacques sich an die Wagentür und konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf die entfliehenden Blickpunkte; er wußte, daß Schottlands Grenze nahe war, und im Vorüberfahren spähte er nach einem Berg; einen Berg sehen! Welch grandioses Schauspiel für einen Menschen, der immer nur Montmartre bewundert hatte! Wenig später, und ohne sich diesmal zu irren, konnte er den Namen der Station erkennen: Gretna Green, die erste schottische Stadt!
Ein süßer Name, der gar manches Herz heftig hat pochen lassen! Zauberhafte Benennung, wo so viele Romane ihren letzten Band abgeschlossen haben, um der Geschichte Platz zu machen! Nicht nur der Schmied, wie man immer geglaubt hat, sondern auch der Fischer oder der Gastwirt des Ortes besaßen die erforderlichen Eigenschaften, um eine Trauung nach den schottischen Gesetzen zu vollziehen; und vom einfachen Cockney bis zu Charles Ferdinand de Bourbon, Bruder des Königs von Sizilien – vor der Liebe waren sie alle gleich, und wie viele Paare haben sich nicht vor diesen improvisierten Beamten vereint! Solche heimlichen Ehen werden noch immer geschlossen, obwohl die Regierung seit dem Jahre 1846 Sorge getragen hat, sie zu verbieten. Gretna Green glitt am Zug, der mit Volldampf dahinbrauste, vorüber wie ein Andenken aus verliebten Zeiten!
Endlich atmeten die zwei Reisenden die Luft des alten Kaledonien ein!
Plötzlich rief Jacques, der sich an der Wagentür hinauslehnte, mit bewegter Stimme:
»Jonathan, Freund Jonathan, endlich habe ich ihn!«
»Wen denn, Freund Jacques?«
»Den ersten Berg meines Lebens!«
»Tatsächlich! – Willst du ihn mir nicht einen Augenblick leihen, ich gebe ihn dir bestimmt wieder, versprochen!«
»Mach ruhig deine Späße, aber schau«, entgegnete Jacques; »siehst du diese undeutliche Gestalt, die am Horizont emporragt, das ist ein richtiger Berg, dessen Gipfel sich in den Wolken verbirgt!«
Jacques hatte recht, man konnte die ersten Erhebungen der Skiddaw-Kette erahnen, und die Spitze eines vereinzelten Berges verlor sich im Nebel. Der Railway schlängelte sich zwischen den Gebirgsfalten dahin, und die Landschaft veränderte völlig ihr Aussehen; sie zeigte mit einem Mal, ohne jeden Übergang, einen rauhen und unwirtlichen Charakter; das Tal verengte sich zu einer tiefen Schlucht, und der Zug fuhr mit großer Geschwindigkeit auf einer schwindelerregenden, an die Flanken dieser alten Felsen geklammerten Trasse dahin. Dieses Tempo hatte etwas Phantastisches an sich, in jeder Biegung schien die Wagenreihe drauf und dran, in diese Schlünde hinabzustürzen, auf deren Grund die schwarzen Wasser eines Wildbachs tobten; spitze Steine, trostloses Heidekraut auf einem kahlen Boden, eine vollkommene Einsamkeit hatten das Grün und die Lebhaftigkeit der englischen Gefilde abgelöst; hier waren sie bereits im Land der Fergus’ und der Mac Gregors!
Jacques und Jonathan konnten sich von ihrer Betrachtung nicht losreißen; doch nach einer Stunde waren die erstmals aufgetauchten Highlands wieder verschwunden und hatten den Ebenen der Lowlands Platz gemacht. Die Nacht brach rasch herein, und die beiden Touristen mußten sich wieder mit ihren Sitzbänken begnügen, während sie sich schweigsam von diesen neuartigen und erregenden Eindrücken durchdringen ließen.
Gegen elf Uhr hielt der Zug in Carstairs, wo sich die Strecke gabelt, eine Linie führt nach Glasgow und die andere Richtung Edinburgh; um Mitternacht erwachten die Reisenden, die Ermüdung und Dunkelheit schließlich einschlafen hatten lassen, unter einem wolkenbruchartigen Regen in der Hauptstadt Schottlands.
Neunzehntes Kapitel
Ankunft in Edinburgh
Am Bahnhof nahmen sie eine Droschke und ließen sich, einer Empfehlung folgend, zum Lambret’s Hotel in der Princes Street fahren; breite, jedoch spärlich beleuchtete Straßen verstärkten die Wirkung der ziemlich steilen Gefälle. Die Prinzenstraße zeigte sich mit niedrigen Häusern auf ihrer linken und dem Gitter eines weitläufigen Parks sowie hohen, in die Finsternis eingetauchten Ungetümen auf ihrer rechten Seite.
Bei ihrer Ankunft im Hotel wurden die Reisenden von einem Franzosen empfangen, Monsieur Lambret, der dieses Etablissement leitet. Man wies ihnen zwei Einzelzimmer zu, die nur über die unlogischste Treppe der Welt erreicht werden konnten; das ist im übrigen bei englischen Treppen so üblich, und es bereitet einem größte Schwierigkeiten,
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