Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Reise nach Ixtlan.

Reise nach Ixtlan.

Titel: Reise nach Ixtlan. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
Vom Netzwerk:
beobachtete, begannen meine Augen zu schielen. Eine dunkle Ahnung stieg in mir auf. Ich war überzeugt, wenn ich mir das Geschehen nicht erklärte, so würde ich »sehen«, und dieser Gedanke erfüllte mich mit ungewöhnlicher Besorgnis. Meine Nervosität und meine Erwartungen waren so stark, daß ich mich irgendwie auf den Ausgangspunkt zurückgeworfen fühlte - abermals war ich in meine rationalen Bemühungen verstrickt.
    Don Juan mußte mich beobachtet haben. Plötzlich stieß er mich an; automatisch kehrte ich mich ihm zu und wandte einen Moment den Blick von Don Genaro ab. Als ich wieder zu ihm hinschaute, stand er mit leicht geneigtem Kopf neben mir, sein Kinn ruhte fast auf meiner rechten Schulter. Ich hatte eine verzögerte Schreckreaktion. Ich starrte ihn eine Sekunde an und sprang zurück. Seine Miene gespielter Überraschung war so komisch, daß ich hysterisch lachen mußte. Ich konnte jedoch nicht umhin zu bemerken, daß mein Lachen ungewöhnlich war. Mein Körper bebte unter nervösen Krämpfen, die von der Leibesmitte ausgingen. Don Genaro legte mir die Hand auf den Bauch, und das krampfartige Zittern hörte auf.
    »Der kleine Carlos übertreibt immer maßlos!« sagte er im Ton gespielter Entrüstung. Dann fügte er, Don Juans Stimme und Gebahren nachahmend, hinzu: »Du weißt wohl nicht, daß ein Krieger niemals so lacht?« Er parodierte Don Juan so vollkommen, daß ich noch mehr lachen mußte.
    Die beiden gingen miteinander fort und kehrten erst nach gut zwei Stunden gegen Mittag wieder. Als sie zurückkamen, setzten sie sich vor Don Juans Haus. Sie sprachen kein Wort. Sie schienen schläfrig, müde, beinahe geistesabwesend zu sein. So verharrten sie eine lange Zeit bewegungslos, doch sie erschienen ungemein entspannt und ungezwungen. Don Juans Mund stand ein wenig offen, als schliefe er wirklich, doch an seinen im Schoß gefalteten Händen bewegten sich die Daumen rhythmisch. Eine Zeit lang war mir unbehaglich, und ich rückte auf meinem Platz hin und her, doch dann kam eine wohlige Gelassenheit über mich. Ich mußte wohl eingeschlafen sein. Don Juans Kichern weckte mich. Ich öffnete die Augen. Beide starrten mich an. »Wenn du nicht redest, schläfst du ein«, sagte Don Juan lachend. »Ich fürchte, das stimmt«, sagte ich.
    Don Genaro warf sich auf den Rücken und fing an, mit den Beinen in der Luft zu strampeln. Einen Augenblick glaubte ich, er beginne wieder mit seinen beunruhigenden Clownereien, aber schon saß er wieder mit gekreuzten Beinen da. »Es gibt etwas, das du inzwischen kennen solltest«, sagte Don Juan. »Ich will es den Kubikzentimeter Möglichkeit nennen. Wir alle, ganz gleich, ob wir Krieger sind oder nicht, haben einen Kubikzentimeter Möglichkeit, der von Zeit zu Zeit vor unseren Augen auftaucht. Der Unterschied zwischen einem normalen Menschen und einem Krieger besteht darin, daß der Krieger sich dessen bewußt ist, und es ist eine seiner Aufgaben, wachsam zu sein und besonnen zu warten, damit er, wenn sein Kubikzentimeter auftaucht, die nötige Geschwindigkeit und Geschicklichkeit hat, ihn zu fassen.
    Möglichkeit, Glück, persönliche Kraft oder wie immer du es nennen willst, ist ein eigenartiger Zustand. Es ist wie ein winziges Stäbchen, das vor uns im Boden steckt und uns einlädt, es herauszuziehen. Normalerweise sind wir zu geschäftig, zu geistesabwesend oder einfach zu dumm und zu faul, um zu erkennen, daß dies unser Kubikzentimeter Glück ist. Ein Krieger ist immer wachsam und fest und hat die  Energie, die Geistesgegenwart und den nötigen Mut, ihn zu packen.
    »Ist dein Leben ganz fest?« fragte Don Juan mich unvermittelt. »Ich glaube schon«,  sagte ich überzeugt.
    »Glaubst du, daß du deinen Kubikzentimeter Glück ergreifen kannst?« fragte Don Juan mit ungläubiger Stimme. »Ich glaube, das tue ich die ganze Zeit«, sagte ich. »Ich glaube, du bist nur wachsam in bezug auf Dinge, die du kennst«, sagte Don Juan.
    »Vielleicht mache ich mir was vor, aber ich glaube, daß ich heute bewußter bin als zu  irgendeiner Zeit meines Lebens«, sagte ich und meinte es wirklich.
    Don Genaro nickte billigend mit dem Kopf. »Ja«, sagte er leise, als spräche er zu  sich selbst, »der kleine Carlos ist wirklich fest und absolut auf Draht.«
    Ich glaubte, er verspotte mich. Vielleicht, meinte ich, hatten meine Behauptungen  über meine angebliche Festigkeit die beiden verärgert.
    »Ich wollte nicht prahlen«, sagte ich.
    Don Genaro wölbte die Augenbrauen und riß

Weitere Kostenlose Bücher