Reise zu Lena
die andere, davor noch undenkbar. Aber am Schluss, am Ende unserer langen Reise, als sich unsere Wege wieder fanden und ich bei ihr sein durfte in ihren letzten Tagen, sah mich ihr altvertrauter Blick wieder an, alle Hürden waren wie weggeräumt. Ich sah meine kleine Schwester wieder, fand zu ihr zurück. Ihr Tod gab mir ein Stück Verständnis zurück. Vor allem Mitleid. Und die unbarmherzige Erkenntnis, dass ich hart geworden war. Hochmütig und menschenverachtend. Ich fürchte, die Zeit ist gekommen: Ich klage mich an.
Als Mary im Sterben lag und ich bei ihr sein musste, erschien unerwartet Christie in unserem Haus und nahm Albert mit zu ihrer Mutter aufs Land. Erst dachte ich, es sei nur ein Tagesausflug, dann dehnte sich seine Abwesenheit aus, mich überfielen Sorgen: Würde er, der kranke Mann, auch richtig versorgt und gepflegt werden, so wie er es von mir gewöhnt ist? Ich flehte ihn am Telefon an, nach Hause zurückzukehren, aber er wollte bleiben. Warum nur, frage ich mich. Das ist nicht mein Albert. Was hat ihn nur zu so einem Schritt bewogen? Aber sei ehrlich: Steht Dir das alleinige Recht zu, für ihn Sorge zu tragen? Ist er mein Hab und Gut? Darf niemand anderes in seine Nähe? Oder hat mich die Eifersucht gepackt?
Mary ist nicht mehr, und ich bin seit heute zurück. Ich sitze alleine im verlassenen Haus und warte auf ihn. Ich höre die Uhr von der Küche her schlagen, aber er kommt nicht. Albert ist nun schon weit über eine Woche fort. Gut, ich war selbst unterwegs, aus dringendem, aus traurigem Anlass. Aber er? Und jetzt bin ich zurück, er weiß es genau, aber er ist noch immer nicht da. Denkt er nicht, dass ich ihn nach den schweren Tagen an meiner Seite erwarte? Weiß er nicht, dass er mir jetzt beistehen soll, um den Kummer mit mir zu teilen? Offenbar lässt ihn mein Schmerz unbekümmert.
Die Nacht im Haus so ganz für mich erscheint mir erschreckend. Diese Stille! Ich werde von Raum zu Raum wandern, anklagen, von Zorn heimgesucht werden und sicher erst in den frühen Morgenstunden Ruhe finden. Morgen werde ich Irma nach Albert und seinem Befinden in den Tagen nach meiner Abreise befragen. Er soll ja guter Dinge gewesen sein, aufgeräumt, ging aus! Und es lag ein gewisser Triumph in Irmas Stimme. Es ist offensichtlich: Sie hält zu ihm.
Ich denke an Vater, ich denke immer wieder an ihn, obwohl er schon so lange verstorben ist. Er sagte zu mir: Denke immer daran, dass kein Mensch Dein Besitz ist, weder Dein Vater, noch Deine Mutter, nicht Deine Schwester, selbst Deine Kinder nicht und Dein Mann schon gar nicht. Wenn Dir etwas gehört, dann bist Du es selbst. Und auch diesen Besitz musst Du mit Gott teilen. Und am Schluss ist Er immer derjenige, der bestimmt. Der Boss!
Also: Gehört mir Albert? Ich habe ihm gedient, ich habe ihn gepflegt, als er krank wurde. Ich denke, ich habe ihm den Vortritt gelassen, vor meinen Interessen, vor meinen Wünschen. Reisen wurden zurückgestellt, die geliebte Gewohnheit, nach Salzburg oder nach Bayreuth zu reisen, um die Festspiele wie früher zu genießen, wurde nach und nach ausgelassen. Wie ich die schönen Tage dort liebte, die Musik, den Glanz, der einen umfing. Albert war nicht mehr ansprechbar. Ich sprach zu mir: Er ist krank, Du musst das Opfer bringen. Vielleicht sprach ich dies auch gelegentlich aus, was ich heute bedauere. Jetzt muss ich mich fragen, ob mich die Hingabe, meine ständige Pflichterfüllung hart gemacht haben. Habe ich, und wann, angefangen, ohne meinen erklärten Willen, Albert in Besitz zu nehmen, Stück für Stück, gemeinsam mit der Pflicht, ihn zu pflegen?
Was hat Christie mit ihm vor? Gut, wir standen ihr nahe, später rückten wir voneinander ab. Aber sie blieb immer bei Albert, im Gegensatz zu mir blieb sie ihm bis zu Glories Ende treu. Ich war mehr und mehr erfüllt von dem Verdacht, dass sie, Christie, uns die Tochter wegnehmen wollte. Sie war ja geradezu durchdrungen von der Idee, mit Glorie eins zu werden, sie ganz für sich zu haben. Wir Eltern waren dabei die Verlierer, aber Albert, blind, wollte nichts sehen.
Und jetzt wieder dasselbe böse Spiel? Nur, dass diesmal Albert derjenige ist, der mir abspenstig gemacht werden soll? So war er nie zuvor. Und Lena? Welche Rolle spielt sie, die undurchschaubare Lena, geheimnisvoll in sich versponnen. Sie lebt schon lange allein. Und sie mag Albert, das ist gewiss. Täusche ich mich, sehe ich da die bösen, schwarzen Wolken, bevor sie aufziehen? Sind meine Sinne aufgeschreckt vom
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