Reise zu Lena
Tod der Schwester? Und doch: Was hat Lena vor?
Nein, nein, das alles hat mich hart gemacht. Sie haben mir meine Tochter weggenommen, meine einzige Tochter. Erst ging es sachte vor sich, kaum wahrnehmbar. Gutmütig bin ich in die Falle getappt. Albert und Christie, bald eine verschworene Gemeinschaft, waren am Werk. Schritt für Schritt waren sie am Werk, bis Glorie mich gar nicht mehr ansah, mich, ihre Mutter. Meine Worte der Liebe, der Sorge, geboren aus den tränenerfüllten Nächten, erreichten ihr Ohr nicht mehr. Die Falle war zugeschnappt. Jeder konnte über sie verfügen, Albert, Christie, ihre Freunde und dann die Liebhaber, die ein und aus gingen, von ihr Besitz nahmen, um sie mir fortzunehmen, das Heer der Ärzte, jeder ein Besserwisser ohne Seele und ohne Mitgefühl. Glories lange Reisen, die sie auf alle Kontinente führten, die Herausforderung, in die sie Glorie gestürzt haben, als ihr Spielball, ihre Trophäe. All dieser Leichtsinn, die Abkehr vor jeder Vernunft: Wer musste dafür bezahlen? Nicht Albert, nicht Christie und all die anderen. Nein, ich: Ann! Mit meinem Fleisch und Blut, mit dem Leben der Tochter, diesem wunderbaren Geschöpf, so schön und edel. Selbst Vater war von dem süßen Wesen, klein noch, außer sich. Die wenigen Jahre, die er sie noch erlebte.
Ich muss denken, weiterdenken! Ist es wirklich so, wie mich meine Leidenschaft treibt? Kann es so sein? Ist es wirklich so, dass das Leben einem etwas nimmt, ohne dass derjenige, der den Verlust trägt, das Seinige dazu getan hat? Gibt es ein Opfer, das nicht schon längst einen heimlichen Pakt mit dem Täter geschlossen hat? Vielleicht kopflos, aber mit dem Sehnen der Seele. Tu mir nichts zuleide, berühre mich nicht, aber nimm mich!
Am Ende – habe ich es nicht soeben an Marys Sterbebett erfahren – ist alles anders. Die einseitigen Rechnungen mit den unseligen Summen der Erwartungen werden, diese Erkenntnis kommt wie ein Schauer über Dich, niemals eingelöst: Rechnungen, auf die Du ein halbes Leben lang gewartet hast, gehen am Ende nicht auf. Du kannst sie nicht einlösen. Ein wertloses Blatt Papier. Woran sich Deine Hoffnung klammerte, ist Müll. Wie so vieles andere: Müll!
Es gibt keine Rechnung ohne Gegenrechnung. Das Leben ist eine einzige Rechnung des Austauschs von Waren. Aber wer macht am Schluss den Handel?
Albert sagte mir am Telefon, er sei bei Christie, um Genaues über das Ende von Glorie zu erfahren. Endlich sei das Tappen im Dunkeln, immer wieder leidvoll genug, nun endgültig am Ende. Die Wahrheit wäre traurig, sehr traurig, aber sie würde endlich Licht bringen. Und er würde mir berichten. Ist dies Christies Absicht? Sie hätte damit auch warten können bis nach Marys Tod. Soll das ein Zufall sein? Schwer vorstellbar. Auf der anderen Seite hatte ich mich von Christie abgewandt und sah mich von ihr verraten, war voller Vorwürfe ihr gegenüber. Ist es ausgeschlossen, dass ich ihr Unrecht getan habe?
Ich muss natürlich damit rechnen, dass Albert mich nicht mehr liebt. Er, der doch, so dachte ich immer, mir für alles für ihn Geleistete dankbar sein müsste. Aber hat die Erwartung von Dankbarkeit etwas mit Liebe zu tun? Schon wieder ein Handel! Sollten wir nicht Gutes tun aus selbstlosen Impulsen? Gutes tun ist nicht verhandelbar oder es wird ein Geschäft daraus. Aber ein Geschäft in der Ehe? Wieder ein Geschäft mit Gegengeschäft! Ein grauenvoller Abweg! Nein, so will ich nicht sein. Und doch, habe ich mich Schritt für Schritt versuchen lassen, diesen Weg zu beschreiten. Um Gottes Willen: Wenn es so sein sollte, dann bin ich voller Scham. Ich hätte es verdient, dass mein längst verstorbener Vater mir den Kopf wäscht. Oder heute: Albert!
Wir liebten uns. Als wir heirateten, liebte ich Albert von ganzem Herzen. Dieser prächtige Mann mit den leuchtend blauen Augen, den blonden Haaren – damals noch eine wilde Mähne -, dem aufrechten Gang, mit seinem freundlichen, Vertrauen erweckenden Lächeln, so ganz ohne Misstrauen. Ein Mann, der allem Gegenwind zum Trotz unerschrocken ans Gute glaubt. Ein Mann, der Sicherheit schenkte, wo ich mich anlehnen konnte. Vaters engster Mitarbeiter, loyal, umsichtig, fleißig. Erst sein Assistent, dann sein Vertreter und später Nachfolger. Aber was ist aus unserer Liebe geworden? Ich weiß es selbst nicht. Wie ein Kleid aus Federn, das sich auflöst, und die Federn, eine nach der anderen, zu Boden gleiten, behutsam, erst unbemerkt, lautlos, bis der Boden unter Dir bedeckt
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