Remember
öffnen.«
Annabel versuchte, die Stimme aus dem Kopf zu verdrängen, aber sie schaffte es nicht.
Es war eine Sache zu vermuten, dass hinter der Maske eines Menschen etwas Böses schlummerte, eine andere, diese Maske wirklich fallen zu sehen. Und obwohl sie inzwischen ahnte, dass George sie von Anfang an belogen hatte, konnte sie nicht begreifen, wie er zu so etwas fähig sein konnte.
Annabel hörte einen merkwürdigen Laut, wie das Jammern einer Katze, bis ihr bewusst wurde, dass es ihr eigenes Schluchzen war.
»Deine Angst vor der Dunkelheit war nichts anderes als deine Angst vor der Hölle.« Die Stimme vor der Tür ließ nicht von ihr ab. »Denn in der Hölle ist es nicht hell und warm, Annabel. Dort brennen keine Feuer. Nein. Die Hölle ist finster und kalt. – Hölle ist die Abwesenheit von Licht.«
Annabels Schluchzen war längst zu einem krampfartigen Weinen angeschwollen.
»Hör auf, dich zu wehren. Nimm dein Schicksal an. Denn die Sonne wird nie wieder für dich scheinen. Nie wieder.«
Auf allen vieren kniete Annabel in der Dunkelheit auf dem Boden. Ihre dünnen Arme, ihr schmaler Rücken drohten zu brechen unter der schweren Last von Georges Worten. Sie wünschte sich weit weg von diesem schrecklichen Ort. In einer letzten Kraftanstrengung schloss sie die Augen und ihr Geist kehrte zurück an den See in Willowsend.
Unter einem blauen Himmel und einer heißen gelben Sonne stand Annabel am Ende des Bootsstegs und schaute aufs Wasser. Sie suchte Schutz in ihren Erinnerungen, doch selbst hier vernahm sie Georges beschwörende Worte. Wie ein geisterhaftes Flüstern wehten sie zu ihr herüber und bereiteten der Dunkelheit den Weg. Einen Wimpernschlag später wurden die hellen, sonnigen Bilder, die sie von diesem Ort gesammelt hatte, grau und welkten dahin wie vertrocknende Blumen. Das kristallklare Wasser des Sees färbte sich tiefschwarz. Dann verfinsterte sich der Himmel und aus dem Flüstern wurde ein Schrei, der wie ein Tornado eine Schneise der Verwüstung hinter sich herzog. Mit letzter Kraft drehte sich Annabel noch einmal um und schaute zum Haus mit den gelben Fenstern. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, als der Sturm auf sie einpeitschte und sich das Wasser meterhoch aufbäumte.
Im Rhythmus ihres eigenen Herzschlags, der laut in Annabels Ohren pochte, schlugen die Wellen an die Pfähle und Planken des Stegs. Und mit jedem Schwall Blut, der durch ihr Gehirn gepumpt wurde, schwappten immer neue, grauenhaftere Visionen ans Ufer ihres Verstandes. Das war mehr, als sie ertragen konnte. Als der Schrei den Bootssteg erreichte und eine Planke nach der anderen herausgerissen und in die Luft gewirbelt wurde, schloss Annabel die Augen, breitete die Arme aus und ließ sich rücklings in das tosende Wasser fallen.
George genoss die Macht, die er in diesem Moment besaß. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie erlebt. Und hätte es den Zwischenfall auf dem Bahnhof von Willowsend nicht gegeben, hätte er nie entdeckt, dass es überhaupt möglich war. Er hatte sich so sehr gewünscht, dass sie einmal erfuhren, wie es sich anfühlte, für andere unsichtbar zu sein. Und dann war der Wagen mit den Koffern einfach durch Michael hindurchgefahren, als würde er überhaupt nicht existieren. So, wie er es sich in Gedanken ausgemalt hatte. Es war einfach wunderbar gewesen.
Leider war es ihm nicht möglich gewesen, dieses Ereignis zu wiederholen, es bewusst herbeizuführen. Es war eine Sache, mit den Ängsten anderer zu spielen, und eine andere, die eigenen heraufzubeschwören, um sie als Waffe zu benutzen. George hatte keine Ahnung, wieso es überhaupt möglich war. Er wusste nur, dass er es für seine Zwecke nutzen konnte.
Er spürte die Veränderungen hinter der Tür. Erst ganz leicht, wie ein Vibrieren, dann immer stärker. Am liebsten hätte er die Tür aufgerissen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Doch er durfte jetzt nicht den kleinsten Fehler machen. Schon bei der Sache mit Eric war er ein hohes Risiko eingegangen. Er hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, was passieren würde.
George wusste, dass seine Worte nur der Funke waren, der Annabels Fantasie und Ängste entzündete. Den Rest musste sie selbst übernehmen. Nur wenn er die richtigen Knöpfe drückte, würde sie eigenhändig das Feuer schüren. Und er musste lächeln bei dem Gedanken, dass es überhaupt keine Rolle spielte, ob er die Wahrheit sagte oder nicht. Denn in einer Welt, in der Gedanken eine Waffe sind, herrschen andere
Weitere Kostenlose Bücher