Remember
bleiben. Und er blieb stehen. Bei Fuß!, befahl sie ihm und hätte über diesen albernen Befehl beinahe gelacht. Aber es funktionierte. Der Ball rollte ein Stück zurück und blieb nun an ihrer Seite, gehorchte ihr, rollte dahin, wo sie hinging. Sie kicherte.
Michael sah sie fragend an.
»Ich bin verrückt, schon vergessen?«, sagte Annabel fröhlich. »Und Verrückte kichern manchmal einfach so, ganz ohne Grund. Und weißt du was? Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, verrückt zu sein. Wir können tun, was wir wollen, denken, was wir wollen, und glauben, woran wir wollen. Wir sind frei.«
»Aber verrückt«, sagte Michael und lächelte zum ersten Mal wieder.
»Einen kleinen Haken gibt es immer.«
Im Erdgeschoss betraten sie den Westflügel und blieben vor einer großen Glastür stehen, durch die man auf die Südseite des Hauses gelangte.
»Und du willst wirklich raus in den Park?«, fragte Michael und sah skeptisch aus dem Fenster. »Der Nebel scheint immer dichter zu werden.«
»Den puste ich weg«, sagte sie und blähte ihre Wangen auf. Sie drückte Michaels Hand noch ein wenig fester. »Hab keine Angst, ich pass auf dich auf«, flüsterte sie.
Ein kalter Luftzug hüllte sie ein, als sie die Tür zum Arkadengang öffneten und über eine breite Treppe runter in den Park gingen. Die feuchtkalte Luft kribbelte auf Annabels Gesicht. Sie schloss den obersten Knopf ihres Mantels und kuschelte die Wangen an den weichen Pelz ihres Kragens.
Als sie den Seerosenteich erreichten und über die kleine Holzbrücke gingen, glaubte sie, aus den Augenwinkeln ein paar Seerosen aufblühen zu sehen. Nur ganz kurz, wie ein freundliches Zwinkern der Natur.
Ist es das, was man sieht, wenn man langsam verrückt wird?
Ist doch gar nicht so schlimm.
Annabel führte Michael bis zu den Bäumen an der Mauer. Dann ließ sie seine Hand los, ging etwa zwei Meter von ihm entfernt ein paarmal langsam um ihn herum und konnte gar nicht aufhören, ihn anzulächeln. Als sie plötzlich das Bild einer kleinen Gazelle vor Augen hatte, die einen Löwen umkreiste, musste sie laut auflachen.
»Geht es dir auch wirklich gut?«, fragte Michael.
»Ja.« Weil du hier bist. Hier bei mir.
Das ist er also, der Junge, in den ich mich verliebt habe, dachte Annabel. Sie hatte sich immer gefragt, wann es endlich passieren und wie es sein würde – wie er sein würde. Aber dass ausgerechnet jemand wie Michael ihr Herz eroberte, hätte sie im Traum nicht gedacht. Er, den sie immer für einen eingebildeten, egoistischen Schnösel gehalten hatte, der sich nur für seinen Sport interessierte, war in Wahrheit ein sensibler, liebevoller, kluger, hilfsbereiter… Annabel hätte die Liste seiner positiven Eigenschaften ins Unendliche fortsetzen können. Und doch, dachte sie, fiel es ihr gleichzeitig unendlich schwer, die richtigen Worte zu finden für das, was sie für ihn empfand. Zu neu und stark waren ihre Gefühle. Und weil sie nicht wusste, wie sie es ihm sagen sollte, drehte sie sich für ihn, so wie sie es als Kind getan hatte, wenn sie übersprudelte vor Glück. Er wird es verstehen. Wenn wir füreinander bestimmt sind, wird er es verstehen.
Sie breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Dann fing sie an, sich zu drehen und zu drehen.
Sieh mich an, Michael! Ich bin in dich verliebt! Kannst du es sehen?
Eric schaute vom Aufenthaltsraum hinunter auf den Park. Der verdammte Nebel war inzwischen so dicht, dass er Annabel und Michael nur noch schemenhaft erkennen konnte. Hin und wieder berührte seine Stirn das kalte Glas und hinterließ einen fettigen Abdruck. Er kam sich vor wie ein kleiner Hund, den man im Regen vor dem Supermarkt angebunden hatte und der seine kleine feuchte Nase gegen das Schaufenster drückte und ängstlich darauf wartete, dass Herrchen und Frauchen zurückkamen. Hätte er es gekonnt, dann hätte er in diesem Moment herzzerreißend gejault.
Sein Verstand war noch immer damit beschäftigt zu verarbeiten, was er in seiner Akte gefunden und was Michael ihm anvertraut hatte. All dies war so unbegreiflich und verstörend, dass es die allerletzten Kraftreserven aus seinem Körper zog.
Voller Verzweiflung setzte er sich auf einen Stuhl und legte den Kopf in die Hände. Und fühlte sich so allein wie nie zuvor.
Sie ist so zauberhaft , dachte Michael und schaute zu, wie Annabel sich drehte, in sich versunken und mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Selbst in dem trüben Licht leuchtete ihr rotes Haar wie
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