Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug
vernünftig zu denken. Sollte sie lügen und behaupten, es gäbe noch jemand, der über die Kassette Bescheid wisse? Sollte sie zu verstehen geben, dass es aussichtslos wäre, die Existenz des Dokuments zu verheimlichen?
»Ich habe einen Journalisten in Pjevac angerufen und ihm davon erzählt. Daraufhin haben wir uns verabredet.«
»Mit deinem Telefon ist von Montenegro aus lediglich zweimal nach Frankreich telefoniert worden.«
Das Gesicht des Amerikaners war ausdruckslos. Ein Mann mit Bürstenschnitt und dicken Backen, der eine augenscheinlich schwere Aluminiumkiste trug, kam aus der Tür und verschwand um die Ecke.
»Ich habe von einer Telefonzelle aus angerufen.«
»Wo?«
»Ich kann mir die hiesigen Ortsnamen nicht merken.«
Ein Hauch von Wärme trat in die Augen des Amerikaners. »War ein guter Versuch. Ich habe Respekt vor zähen Menschen.«
Christians Blick fand im dunklen Gelände die vom Wind gekrümmte Bergkiefer und den Felsbrocken daneben, aber von Franjo war nichts zu sehen.
Christian war verzweifelt. Sollte Sara sterben, wäre er schuld an ihrem Tod. Ein scharfer Pfiff ertönte unten in der Dämmerung. Christian schaute in die Richtung, aus der der Laut gekommen war. Franjo tauchte hinter dem Felsbrocken auf und schwenkte den Arm. Er stand auf, um ein Seil nach oben zu Christian zu werfen. Es war reine Glücksache, wenn sie von den Amerikanern nicht entdeckt würden, aber dies war ihre einzige Chance.
Der erste Wurf missglückte. Das Seil kam nur bis auf einen Meter an Christians ausgestreckte Arme heran. Die Sekunden vergingen. Vor seinem inneren Auge sah Christian, wie Sara durch die Festungsgänge zur Todeszelle geführt wurde. Franjo warf erneut. Diesmal erwischte Christian das Seil, fand aber nichts, woran er es befestigen konnte. Also schlang er es um seine Handgelenke, stemmte sich mit beiden Füßen gegen die Wand und fungierte selbst als Gegengewicht zu Franjo, der routiniert die Wand hinaufkletterte. Das Anspannen der Muskeln brachte die Bisswunde an Christians Oberarm zum Brennen. Nach wenigen Sekunden schob sich Franjo durch die Öffnung in der Mauer und nahm Christian das Seil ab. Erst da fiel Christian ein, die HEPA-Haube aus der Tasche zu nehmen und wieder aufzusetzen.
»Sie führen Sara in den sicheren Tod«, flüsterte Christian außer Atem in Franjos Ohr. Franjo warf einen kurzen verwunderten Blick auf die Schutzhaube, richtete dann aber die Aufmerksamkeit nach unten. Dort waren wie aus dem Nichts Plav und Nikola aufgetaucht. Plav nahm das Seil, und Nikola baute sich mit dem Rücken zu ihm auf, die Maschinenpistole schussbereit. Franjo hielt das Seil, während sein Kamerad nach oben kletterte.
»Das hier ist eine Mikrofaserhaube«, flüsterte Christian und berührte den Stoff, der sein Gesicht bedeckte. »Die Opfer haben eine ansteckende, tödliche Infektion, die nicht verbreitet werden darf... Ich war bei ihnen.«
Plav schob sich durch die Öffnung. Franjo übergab ihm das Seil, flüsterte ein paar knappe Worte auf Serbokroatisch und lief dann mit der Maschinenpistole in der Hand hinter Christian her in die Richtung, in die Sara geführt worden war.
Christian rannte, so schnell er konnte, ohne sich darum zu scheren, ob jemand sie bemerkte. Sie erreichten die Tür, durch die Coblentz und Sara verschwunden waren. Christian griff nach der massiven Klinke, aber die Tür war abgesperrt.
Franjo zog ein Lederetui aus der Tasche und reichte es Christian. »Setz es erst auf, wenn wir drin sind.«
Christian umklammerte das Etui. Es enthielt ein Gerät, dessen Benutzung er im Auto geübt hatte.
»Sve spremno«, sagte Franjo über Funk zu Vojislav und entnahm der Schenkeltasche seiner Hose eine Art Knetmasse.
»Abstand halten!«, flüsterte er Christian zu.
Christian trat mehrere Schritte zurück und sah dabei zu, wie Franjo die Masse gegen das Türschloss drückte. Anschließend steckte er einen elektrischen Zünder in die Masse und ging rückwärts zu Christian, wobei er ein dünnes Kabel abspulte. Man sah, dass er all das nicht zum ersten Mal tat. Plav kam um die Ecke und blieb auf Franjos Handzeichen hin stehen.
Im selben Moment spürte Christian eine scharfe Druckwelle am ganzen Körper. Durch den Druck und das laute Explosionsgeräusch gingen ihm schlagartig die Ohren zu. Die zweite Explosion in einer anderen Ecke des Gebäudes und gleich darauf eine dritte aus der entgegengesetzten Richtung spürte er mehr, als dass er sie hörte. Mit der Maschinenpistole in der einen
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