Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug
Luftkrieg der Nato gegen Jugoslawien hatte Christian nicht gefallen, weshalb er es vermied, mit Rebecca, der Frau eines Nato-Offiziers darüber zu reden. Er fragte sich, was Rebecca gedacht haben mochte, als er im Flugzeug beim Start und bei der Landung ihre Hand genommen hatte. Hatte sie geglaubt, er litte unter Flugangst, oder hatte sie es mit dem Unglück und der daraus resultierenden Beklemmung in Verbindung gebracht? Sie hatte jedenfalls nichts gesagt, sondern nur seine Hand gehalten. Immer wieder waren sie die verschiedenen Gründe durchgegangen, die zum Verschwinden der Passagiere geführt haben konnten, aber eine vernünftige Erklärung hatten sie nicht finden können.
Rebecca hatte vor dem Abflug lange mit ihrem Sohn und mit der Freundin, die auf ihn aufpasste, telefoniert. Sie hatte zu ihrem Sohn gesagt, sie mache sich auf den Weg, »um den Papa abzuholen«.
An einem flachen Hang neben der Straße stand die Ruine eines burgartigen Gebäudes, das man mit gutem Grund als geisterhaft bezeichnen konnte.
»Und ich hatte immer gedacht, Graf Dracula wohnt in Transsylvanien«, sagte Rebecca. Christian kam sich vor wie in der Welt der Geschichten von Tim und Struppi, die er als kleiner Junge verschlungen hatte; eine von ihnen hatte in einem dubiosen Balkanstaat gespielt. Die schwarzen, schneebedeckten Gipfel reichten bis zu den Wolken. Christian war von der Wildheit Montenegros überrascht. Es war, als wären die Alpen nach Süden verrückt worden, in die mediterrane Vegetationszone.
»Was immer in der Maschine auch geschehen ist, Mark hat mit Sicherheit versucht, etwas zu unternehmen«, sagte Rebecca leise. »Er ist nicht einfach auf seinem Platz sitzen geblieben.«
Christian nickte.
»Hast du schon mit den Eltern deiner Braut gesprochen?«
»Sie kamen bei einem Autounfall ums Leben, als Tina neun Jahre alt war. Die Tante, bei der sie aufwuchs, starb zehn Jahre später.«
»Das tut mir leid.«
»Jetzt wird mir erst klar, wie wenig ich über Tinas Leben weiß. Ich bin keinem ihrer Verwandten je begegnet und kenne kaum einen ihrer Freunde. Wir wollten auf unserer Hochzeitsreise auch die Vereinigten Staaten besuchen. Dort wäre ich dann zum ersten Mal mit Tinas Geschichte in Berührung gekommen. Ihre Familie ist in den 30er Jahren von Italien nach Amerika ausgewandert.«
»Es kommt nicht darauf an, was du weißt, sondern was du fühlst. Wohin sollte die eigentliche Hochzeitsreise denn gehen?«
»Auf die Malediven. Wir haben uns dafür aufgrund eines einzigen Fotos in der Zeitung entschieden«, schmunzelte Christian. »Es sah für uns beide wie das vollkommene Paradies aus.«
Je näher sie dem Meer kamen, umso üppiger wurde die Vegetation. Am Straßenrand sah man Palmen, Zypressen und Pinien. Christian war nie richtig bewusst gewesen, wie mediterran die Küste des Balkans war.
»Warum bist du eigentlich Gehirnforscher geworden?«, fragte Rebecca unvermittelt. Christian umklammerte das Lenkrad und starrte auf die holprige Straße im Licht der Scheinwerfer. »Ich wollte nicht als Arzt weitermachen.«
Rebecca schien aus seinem Tonfall etwas herauszuhören, das sie davon abhielt, weiter zu fragen. Verlegenes Schweigen breitete sich im Auto aus.
»Ich bin zur Neurologie gewechselt«, fuhr Christian schließlich fort. »Das Gehirn ist das komplizierteste Forschungsobjekt, das es gibt. Und die Gehirnforschung ist die größte intellektuelle Herausforderung der Menschheit.«
»Glaubst du, die Gehirnforschung kann erklären, wie das Innenleben des Menschen funktioniert? Lässt sich zum Beispiel das Handeln eines Menschen im Moment eines Unglücks über die Gehirnfunktion erklären? Muss man dabei nicht auch Dinge wie Moral und Wertvorstellungen in Betracht ziehen?«
Christian warf einen kurzen Blick auf Rebecca und schmunzelte. »Wo hast du studiert?«
»Wie bitte? Soll eine normale Hausfrau und Mutter etwa nicht fähig sein, sich auf wissenschaftlichem Niveau zu unterhalten? Du scheinst ein Gefangener deiner Vorurteile zu sein. Hast du je Thomas Szasz gelesen?«
»Nein.« Der Name des amerikanischen Psychiaters war Christian geläufig, aber er hatte nie eines seiner Bücher gelesen.
»Leute wie du müssten sich gleich zu Beginn des Studiums mit Szasz beschäftigen. Wie kann jemand behaupten, das Gehirn zu erforschen, wenn er es nicht auch vom Gesichtspunkt der Moral und der Werte betrachtet?«
»Du hast überraschende Züge an dir, Rebecca.«
»Und da du nun einmal Gehirnforscher bist, kannst du offenbar
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