Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug
sei. Tina hatte geantwortet, sie wisse es nicht. Das war eine Lüge gewesen, und Christian hatte es gesehen. Erneut hallte in seinen Ohren Saras Satz wider: Du solltest dich auf Überraschungen gefasst machen, wenn du Tina heiratest.
Der auffrischende Morgenwind erfasste Christians Haare, während er in die Ferne blickte. Auf der anderen Seite lag Italien, die Heimat von Tinas Großeltern, das Land, das sie in ihren Bildern verewigt hatte. Vor Christians innerem Auge schimmerten die nächtlichen Wellen von Venedig und Tinas Silhouette, die sich auf der schwankenden Wasserfläche widerspiegelte. Noch immer wunderte er sich darüber, dass sie damals nicht Tinas Verwandte in der Nähe von Bologna besucht hatten.
Zum ersten Mal war Christian richtig alleine, zum ersten Mal drückte ihn die gesamte Last nieder: Tina war tot. Aber wo war sie? Was war geschehen?
Er wollte mit jemandem reden. Nicht mit seinen Eltern, nicht mit Brian und nicht mit anderen Bekannten, sondern - mit Sara. Von allen Menschen auf der Welt kannte er sie am besten. Und umgekehrt. Christian beschloss, in Cannes anzurufen. »Wo bist du?«, rief Sara ins Telefon. Ihre Stimme verriet, dass sie wusste, dass Tina an Bord der Unglücksmaschine gewesen war. »Ich habe dir hundert Nachrichten auf Band hinterlassen ...« Sie klang ehrlich erschüttert. »Es tut mir wahnsinnig leid . .. Wo bist du?«
»In Montenegro, in der Nähe der Absturzstelle.« Christians Stimme drohte zu brechen. »Bis jetzt ist kein einziges Opfer gefunden worden.« »Ich weiß. In den Nachrichten wird über nichts anderes berichtet.«
»Ich sollte das nicht gleich als Erstes fragen, aber ich kann nicht anders ... Was hast du gemeint, als du sagtest, ich solle mich bei Tina auf Überraschungen gefasst machen?«
»Nichts.« Sara seufzte gequält. »Verzeih mir, ich wollte dir nur wehtun.« »Ich will es hören.«
»Christian, lass gut sein, jetzt ist nicht der richtige Moment für so etwas, ehrlich . .. «
»Was für Überraschungen hast du gemeint?«
»Du solltest dich nicht quälen . .. «
»Ich will es wissen. Es ist wichtig.«
Sara war ganz still, aber dann antwortete sie. »Einmal habe ich Tina zufällig in der Stadt gesehen, wie sie mit einem Typen sprach.«
»Mit was für einem Typen?«
»Du erinnerst dich bestimmt an das Sektenmitglied, das vor dem Festivalpalast Flugblätter verteilt.«
»Ja, und?« Christian merkte, dass er seine Frage etwas zu schnell stellte. »Es hat doch wohl nicht viel zu bedeuten, wenn man sich mit jemandem unterhält?« »Natürlich nicht, aber sie sind zusammen weggegangen. Und sie benahmen sich so, als würden sie sich gut kennen.«
Christian wurde schwindlig, und er schloss die Augen.
18
»Hast du Tina nachspioniert?« Christian war nicht fähig, die Härte in seiner Stimme zu kontrollieren.
»Natürlich nicht. Ich habe auf eine Freundin gewartet. Entschuldige, aber ich habe dir doch gesagt, dass ich nur eine Andeutung machen und gemein sein wollte.« »Warum hast du mir das nicht früher erzählt?«
»Was hat es denn schon für eine Bedeutung? Der Typ redet mit vielen Leuten, das ist sein Job.«
Christian atmete tief durch. Die Flecken auf der Tapete schienen Gesichter zu bilden, die ihn mit leblosen Augen anstarrten. Er erinnerte sich an den jüngeren Mann, der die gelben Zettel vor dem Festivalpalast verteilte, bei Wind und Wetter. Überall hatte er solche Sektenanhänger gesehen. Bei einem rational orientierten Gehirnforscher weckten sie am ehesten Belustigung. Tina hingegen war von allem fasziniert gewesen, was sich mit dem Verstand nicht erklären ließ. Sie hatten ein paarmal über die neurotheologische Behauptung diskutiert, der zufolge es im Gehirn einen besonderen religiösen Kanal gibt, einen leeren, von materieller Erfahrung freien nervösen Sektor. Tina hatte sich dafür sehr interessiert. Der Hinweis, sie könne etwas mit dem Sektenmitglied vor dem Festivalpalast zu tun gehabt haben, war einerseits lächerlich und andererseits möglich. Das musste sich Christian eingestehen.
Tina hatte gesagt, ihre Kunst komme von irgendwo »außerhalb« oder »aus der Vergangenheit«, und sie hatte vom »automatischen Malen« gesprochen, wie man vom automatischen Schreiben spricht. Sie hatte sich leidenschaftlich für die mittelalterlichen Mystiker und ihre Kunst interessiert, aber ihre eigentliche Fixierung galt Hieronymus Bosch. Tina hatte nicht an der Kunstakademie studiert, sondern Kurse in den USA und in Paris besucht, wo sie
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