Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug
ein Jahr zuvor hingezogen war. Über ihr Einkommen hatte sie sich dank ihres Erbes keine Sorgen zu machen brauchen, weshalb sie sich hundertprozentig ihrer Berufung widmen konnte. Christian mochte nur wenige ihrer Arbeiten und hatte deswegen ein schlechtes Gewissen.
»Bist du noch dran?«, fragte Sara.
»Ich möchte dich um einen kleinen Gefallen bitten ... Könntest du in Tinas Wohnung gehen und dich dort ein bisschen umsehen?«
»Warum? Ich weiß nicht, ob das richtig wäre . . .«
»Sara, ich bitte dich darum.«
»Und wie komme ich hinein?«
»Ich rufe die Concierge an, sie kennt mich. Ich werde sie bitten, dich hineinzulassen.« Sara überlegte kurz. »In Ordnung. Kommst du zurecht?«
»Ich komme klar. Ich rufe dich später wieder an.«
Christian legte irritiert auf. Er fing an, in Tinas Verhalten nach Gesten, Mienen und Worten zu suchen, die von der Normalität abwichen. Es kamen überraschend viele zusammen. Na und? Er hatte sich ja gerade in sie verliebt, weil sie anders war, ungewöhnlich. Hätte er Vorhersehbarkeit gewollt, hätte er Sara nehmen müssen. Und niemandes Verhalten war durch und durch rational, am wenigsten sein eigenes. Er liebte Tina, und daneben hatten Kleinigkeiten keine Bedeutung.
Trotzdem blätterte er in seinem Adressbuch und rief die Concierge an, die in der untersten Etage von Tinas Haus wohnte. Sie sprach nur gebrochen Englisch, konnte sich aber sofort an Christian erinnern. Sie klang nicht sonderlich schockiert, als sie hörte, dass Tina in der Unglücksmaschine gewesen war, hatte aber Verständnis, als Christian ihr erklärte, er benötige einige Unterlagen aus Tinas Wohnung.
»Eine Finnin namens Sara Lindroos, eine Freundin von Tina, wird sie abholen, wenn es Ihnen recht ist.«
»Selbstverständlich. Ich werde sie in die Wohnung lassen. Was für ein entsetzliches Unglück. . . «
Christian beendete das Gespräch, sah auf die Uhr und warf sich die Jacke über. Er holte die Kassette unter der Matratze hervor, steckte sie in die Innentasche seiner Jacke und trat auf den Flur. Zögernd ging er auf die Zimmertür von Sylvia Epstein zu. Ob sie schon zurück war? Christian versuchte, seinen Zorn herunterzuschlucken und einen klaren Kopf zu bewahren. Er klopfte energisch an.
»Wer da?«, fragte eine barsche Stimme.
»Christian Brück.«
Sylvia öffnete die Tür. »Kommst du zum Interview?«, fragte sie mit einem schiefen Lächeln.
Christian wollte schon auf der Stelle kehrtmachen, beherrschte sich aber mit knapper Not und sagte kalt: »Ich habe etwas zu besprechen.«
»Komm rein.«
Sylvia benahm sich, als wäre auf dem Marktplatz nichts Besonderes vorgefallen; ihn um Entschuldigung zu bitten, schien ihr gar nicht erst einzufallen. Sie bedeutete Christian, sich auf den altersschwachen Stuhl zu setzen, und räumte ihre Papiere auf den Nachttisch. Ihr Laptop stand offen auf dem Boden. Der Zigarettenqualm im Zimmer mischte sich mit Parfumduft. Christian wäre nicht erstaunt gewesen, wenn er irgendwo eine halb leere Flasche Hochprozentiges entdeckt hätte.
Sylvia nahm ihre Zigarettenpackung und ihr Feuerzeug und öffnete das Fenster. »Schau nicht so böse. Ihr Ärzte wollt der Wahrheit nicht ins Auge sehen, was die Verantwortung und die freien Entscheidungen des Menschen betrifft. Raucher sind....« »Weißt du etwas Genaueres über die Flugunfallforschungsorganisation ?« Sylvia steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. »Was willst du wissen?« Ihre Augen verengten sich ein klein wenig, womit sie ihre eigentliche Frage verriet: Warum willst du etwas darüber wissen?
»Wer leitet die zivilen Ermittlungen?«
»Ich glaube nicht, dass sie sich über die Organisationsstruktur selbst im Klaren sind.« Sylvia zündete sich die Zigarette an, während sie sprach. »Ich kläre gerade ab, wen ich als Erstes grillen werde. Oberst Carrington ist angeblich nicht zu erreichen, und wer der offizielle Sprecher ist, wird erst später bekannt gegeben. Die wollen uns veralbern.« Christian mochte diese Frau überhaupt nicht, die allem mit zynischem Hohn zu begegnen schien, den sie zusätzlich mit einem seltsamen Lächeln garnierte. Sein Blick fiel auf die Narbe unter ihrem Armreif: Sie lief quer über die Pulsader. »Warum fragst du?« Sylvia schien die Richtung von Christians Blick zu bemerken und drehte die Hand um. »Was geht dich das an?«
Wieder bildeten Sylvias Lippen dieses eigentümliche Lächeln. »Es gehört zu meiner Arbeit, Fragen zu stellen.«
»Ich muss gehen.«
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