Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug
gelähmt war und fast in den Abgrund gefahren wäre.«
Christian ergriff die Gelegenheit, sich ehrenhaft von dem Minenfeld zurückzuziehen, auf das er sich verirrt hatte. »Der Schreck lässt den Menschen buchstäblich erstarren.« Er sprach in beschwichtigendem Tonfall und gab sich Mühe, möglichst normal zu klingen. »In unserem Gehirn gibt es einen Mechanismus, der bei drohender Gefahr im Nu anspringt, ohne die Hirnrinde, die langsamer funktioniert.
Entwicklungsgeschichtlich betrachtet ist die Angst das wichtigste Gefühl des Menschen. Sie hat unsere Urahnen am Leben gehalten. Und sie hält hoffentlich auch uns am Leben.«
Die Straße führte nun so steil nach unten, dass Sylvia mit dem Motor bremsen musste, um eine zu starke Erhitzung der Bremsen zu vermeiden.
»Die Schlange oder der Löwe sehen ihre Opfer nicht unbedingt sonderlich gut, aber sie registrieren seine Bewegungen«, fuhr Christian mechanisch fort. »Bei Gefahr erstarren wir, weil unser Angstmechanismus automatisch funktioniert und uns zwei Sekunden Zeit verschafft, um die Situation einzuschätzen.«
Auf Sylvias Schläfe waren Schweißtropfen zu erkennen, als sie sich darauf konzentrierte, das Auto in einer Haarnadelkurve unter Kontrolle zu behalten. Christian verstummte. Sie näherten sich Kotor - und hoffentlich auch der Enthüllung des Geheimnisses auf der Kassette.
29
Sara ging forsch auf das Internetcafe an der Croisette zu. Warum hatte Christian noch immer nicht angerufen? Und was sollte sie ihm sagen, wenn er anriefe ? Eine lächerlich lange, weiße Limousine hielt vor dem monumentalen Gebäude des Carlton Hotels. Erhobenen Hauptes marschierte Sara an dem Hotel, das unschöne Erinnerungen in ihr weckte, vorbei. Spaßeshalber war sie einmal im Health Club in der sechsten Etage des Hotels gewesen, als sie sich einen Überblick über die Fitnessräume der Stadt verschaffen wollte. Die cremefarbene Lobby mit ihren Marmorsäulen und tennisplatzgroßen Teppichen hätte sie fast wieder rückwärts hinauskatapultiert, aber sie hatte sich trotz allem auf die Treppe gewagt und war mutig an den Roman-Polanski und Isabelle-Adjani-Suiten vorbei nach oben gegangen. Im öffentlichen Fitnessraum hatte sie dann einen Hotelgast kennen gelernt, einen jungen Unternehmer aus der Computerbranche namens Xavier, der aus dem Silicon Valley von Sophia Antipolis zum Entspannen ans Meer gekommen war.
Sara hatte sich von Xavier zu einem leichten Mittagessen und einem Glas Wein in der Brasserie des Hotels einladen lassen. Die Tage darauf waren wie im Rausch vergangen. Sara hatte das Gefühl gehabt, in die Glanzzeit von Cannes vor dem Ersten Weltkrieg versetzt worden zu sein, in die Welt der Erzählungen von F. Scott Fitzgerald, weit weg vom Alltag. Die unfassbare Romanze mit Xavier hatte in voller Blüte gestanden, als Christian für ein langes Wochenende aus Heidelberg kam. Sara bereute noch immer, dass sie damals nicht fähig gewesen war, das Verhältnis für sich zu behalten, obgleich es keine Zukunft hatte. Kurze Zeit nach ihrem Geständnis hatten Christian und Tina sich gefunden.
Sara ging geradewegs zur oberen Ebene des Internetcafes hinauf. Hier hatte sie Tina kennen gelernt. Technomusik wummerte in den Ohren, sie entströmte einer futuristisch wirkenden Musikanlage neben den dicht aneinandergedrängten Computern. Vor einigen Bildschirmen saßen Kunden.
Sara gab das Passwort ihres E-Mail-Accounts ein. Nur von einer Tauchfirma auf Mauritius war eine Nachricht gekommen; man teilte ihr mit, sie könne im November dort anfangen. Für eine Meeresarchäologin war es das reinste Lotteriespiel, eine Arbeit zu finden, die ihrer Qualifikation entsprach, darum traf Sara leichten Herzens den Entschluss, auch diesen Winter von ihrem Hobby zu leben. Das Tauchen in jenen Gewässern würde ein einziges Fest sein.
Schon allein das Wort Mauritius schmeckte nach Abenteuer. Sara war schon immer auf Herausforderungen aus gewesen und hatte mit großen Erwartungen angefangen, Archäologie zu studieren. Aber der erste Sommer als Praktikantin bei Ausgrabungen im südwest-finnischen Nauvo war eine bittere Enttäuschung gewesen. Das stückweise Abtragen von Steinen und das Rekonstruieren unter der Aufsicht eines peniblen Grabungsleiters war nicht das, was sie sich erhofft hatte, auch nicht der zehnwöchige Kurs in Meeresgeschichte. Sie hatte die Forschungstaucherprüfung abgelegt und wollte eine echte Meeresarchäologin werden. Darum war sie nach Schottland an die
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