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Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug

Titel: Remes, Ilkka - 2 - Hochzeitsflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilkka Remes
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den gleichen Erklärungswahn gestoßen. Immer wieder breiteten sich weltweit Informationen über Derivate aus psychotropen Pflanzen aus, unter deren Einfluss Menschen angeblich alles taten, was man ihnen befahl, ohne dass sie sich im Nachhinein daran erinnern konnten. Datura Stramonium und viele andere Pflanzen enthielten Scopolamin, Atropin und weitere starke Alkaloide mit ähnlich halluzinatorischer Wirkung, wie sie LSD-Derivaten eigen war, aber ein wissenschaftlicher Beleg für eine »chemische Hypnose« lag nicht vor. Obwohl die USA und die Sowjetunion während des Kalten Krieges Unsummen geopfert hatten, um ihn zu erzielen. Solche Mythen lebten besonders lange, weil große Nachfrage nach ihnen bestand. Für schwere Vergehen, die sonst zwangsläufig dazu veranlassen müssten, ein düsteres Bild von der Natur des Menschen zu akzeptieren, fand sich so eine einfache Erklärung: »Die Drogen haben mich zu der Tat getrieben.«
    Christian schämte sich, und er schämte sich für diejenigen seiner Kollegen, die das Verhalten von Mördern mit Hilfe der Neurobiologie erklärten. Wenn jemand einen anderen Menschen tötete, lag kein biologisches Problem vor, sondern eine moralische Beziehung zwischen zwei Menschen.
    Wäre er selbst denn fähig, einen Menschen zu töten, wenn es nötig wäre? Verbarg sich auch in seinem Inneren das Böse, bereit, unter bestimmten Umständen die Macht über ihn zu ergreifen? Er schüttelte den Gedanken unwillig ab. Er wusste es nicht. Und er hoffte, es nie erfahren zu müssen.
    Aber es gab Leute, die man dazu gebracht hatte, zu glauben, dass er fähig war, ein Flugzeug voller Menschen sowie Joachim Klein umzubringen. Eine belebende Wut kehrte in ihn zurück. Es genügte nicht, die Beteiligung der Amerikaner an dem Unglück zu enthüllen, er musste auch seine eigene Unschuld beweisen. Und dafür brauchte er die Kassette.
    Das Auto raste immer weiter. Christian spürte Sylvias Nähe hinter sich. Und wenn sie weiterhin Sylvia bedrohten? Die Frau, die, wie sie selbst gesagt hatte, nicht den Mund halten konnte?
    Endlich nahm die Geschwindigkeit ab. Christian spürte, dass die Straße stark anstieg. Sie wurde wieder kurvenreicher, der Brechreiz meldete sich zurück und erinnerte Christian an einen der peinlichsten Momente seines Lebens. Damals war er Doktorand am Leopold-Müller-Institut gewesen. Einmal war der Flieger nach London in Turbulenzen geraten, und Christian musste zur Kotztüte greifen, obwohl neben ihm die perfekte Frau saß. Trotzdem hatte sich ein interessantes Gespräch zwischen ihnen entsponnen. Die Frau hatte Meeresarchäologie in St. Andrews studiert. Vor ihrem Weiterflug nach Edinburgh hatten sie Telefonnummern ausgetauscht. Zwei Wochen später trafen sie sich in London, wo besagte Sara Lindroos sich wegen eines angeblichen Termins zufällig aufhielt. Sie hatten ihre lange Beziehung manchmal als Kotztütenromanze bezeichnet.
    Der Wagen hielt an, und Christian schärfte mit verbundenen Augen seine Aufmerksamkeit. Die Türen gingen auf und fielen wieder zu. Ließ man sie zu zweit im Wagen ? Er musste Sylvia fragen, wo die Kassette war. Vorsichtig hob er den Kopf, traf aber auf den Wächter, der neben ihm saß. Wortlos stieß dieser ihn wieder zurück. Natürlich ließ man sie nicht zu zweit im Wagen.
    Die Türen gingen wieder auf, und Christian wurde ins Freie gezerrt. Rigoros und schnell wurde er weitergeführt. Ein Windstoß traf seinen Rücken und hauchte eisige Kälte auf den Schweiß unter seinem Hemd. Es war salziger Seewind, man roch das Meer, witterte die Nähe der Wellen, auch wenn man wegen der Augenbinde nichts sah. »Christian ...«, hörte er Sylvia hinter sich sagen.
    »Still«, fuhr sie jemand an.
    »Hat irgendjemand behauptet, Moral und Krieg hätten etwas miteinander zu tun?«, sagte Sylvia und stöhnte auf, weil ihr Bewacher sie offensichtlich dafür bestrafte, dass sie seiner Aufforderung nicht Folge leistete.
    Sylvias Worte klangen in Christians Kopf nach. Was meinte sie damit? Redete sie wirres Zeug? Nein, sie hatte überlegt und mit Nachdruck gesprochen. Hatte sie ihm einen Hinweis auf das Versteck der Kassette gegeben? Christian speicherte ihre Worte. Im selben Moment wäre er fast über die Schwelle gestolpert, über die man ihn führte. Jetzt hatte er Beton oder Steinboden unter den Füßen. Die Schritte hallten, und man spürte den Wind nicht mehr. Christian hätte sich am liebsten die Augenbinde heruntergerissen, aber er wollte die Killer nicht

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