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Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln

Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln

Titel: Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Geiseln
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Pläne über die Verwendung des Geldes, alles kam ihm sinnlos vor. Er schaute auf seine blutigen Hände. Nie würde er das Blut von ihnen abwaschen.
    Was hatte sein Vater ihm in den letzten Augenblicken seines Lebens sagen wollen? Hatte er von seinem Sohn verlangt, seinen Tod zu rächen ? Plötzlich fuhr Vasa zusammen. Er traute seinen Augen nicht. Sein Vater hatte sich bewegt. Ganz eindeutig hatte er sich bewegt. Kalte Schauer liefen Vasa über den Rücken. Lebte der Vater doch noch?
    »Sorry«, sagte eine erschrockene Stimme hinter Vasa.
    Vasa drehte sich schnell zu der Stimme um. Er sah den nervösen Danilo auf dem Gang stehen.
    »War keine Absicht«, sagte Danilo unsicher.
    Erst da begriff Vasa, was passiert war. Danilo war aus Versehen gegen die Beine des Vaters gestoßen und hatte damit dessen Körper in leichte Bewegung versetzt.
    Nun schoss Vasa all das in den Sinn, was Danilo zuvor gesagt hatte. Er sprang auf und packte ihn am Kragen.
    »Du ekelhaftes schwedisches Stück Scheiße! Du wärst bereit gewesen, meinen Vater dem Tod zu überlassen«, zischte Vasa. »Glaubst du, ich könnte dir so etwas je verzeihen?«
    »Vasa«, sagte eine Frauenstimme. »Beruhige dich.«
    Behutsam legte Jasmin ihre Hand auf Vasas Hand.
    Vasa starrte sie einen Moment an. Dann ließ er Danilo los und ließ sich wieder auf seinen Sitz fallen. Er schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück. Der enorme Stress hatte ihn die Selbstkontrolle verlieren lassen. Alle Kraft schien aus seinem Körper zu weichen.
    Niemand näherte sich ihm, und Vasa mochte sich auch nicht umblicken. Die Minuten vergingen, die Maschine flog dröhnend in Richtung Minsk. Vasa versuchte erst gar nicht mehr, gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Es war, als umgäbe ihn dichter Nebel in einem feuchten Wald. Vor sich sah er seine eigenen, ins Leere tastenden Hände, mit denen er versuchte, das lange wehende Haar einer Frau zu ergreifen, aber die Frau, deren Rücken er gerade noch vor sich gesehen hatte, war schon zwischen den Bäumen verschwunden.
    Vasa sah sich als kleinen Jungen aus dem nebelverhangenen Wald auf die sonnenbeschienene Landstraße laufen, die von Blumen und grünen Büschen gesäumt war; begeistert stürmte er zur Haustür und riss sie auf. Der Duft von Mutters Gebäck strömte ihm entgegen, Vasa rannte in die Küche, in die Arme seiner lächelnden Mutter, und sie hob ihn in die Höhe. Gemeinsam gingen sie ins Wohnzimmer, wo der Vater mit einem Buch in der Hand im Sessel saß. Er nahm seinen Sohn auf den Schoß und zerzauste ihm das Haar...
    Dann brach die Finsternis herein, vollkommene Finsternis.
    Vasa fuhr auf und starrte auf die grauen Haare seines Vaters, die unter dem Rand der Wolldecke hervorschauten. Warum hatte ihn niemand aufgeweckt?
    Er drehte sich rasch nach hinten um und sah seine Kameraden im mittleren Teil der Kabine intensiv miteinander reden.
    Auf einmal verstand er die Männer in der Sturmausrüstung, die er da betrachtete, viel besser. Er sah sie mit anderen Augen, mit kühler Klarheit. Diese physisch oder mental verstümmelten Männer suchten nur das Glück. Das Glück, das ihnen ständig aus den Händen zu gleiten schien. Je mehr und verzweifelter sie danach griffen, umso weiter schien es sich zu entfernen.
    Diese Männer glaubten, das Geld würde ihnen das Glück bringen. Ihr Glück hing davon ab, was in den nächsten Stunden geschah. Hatten sie Erfolg, öffneten sich die Tore zur grenzenlosen Glückseligkeit: zum eigenen Weingut, zur Gunst der Blondinen, zum königlichen Auftritt in Las Vegas, zur ewigen Liebe.
    Auf einmal empfand Vasa tiefes Mitgefühl für diese Männer, die in ihrem Herzen einsam waren, von Hass, Bitterkeit und Wurzellosigkeit gebrochen. Diese Männer empfanden eine unerklärliche Sehnsucht nach etwas, das es nicht mehr gab. Und dabei stand es um sie noch relativ gut, im Vergleich zu vielen ihrer Verwandten und dem gesamten Volk daheim auf dem Balkan. Nach welchem Glück streckte man dort die Hände aus? Nach der Chance, in Frieden zu leben, in der Familie, im eigenen Haus, ohne Bedrohung und Angst.
    Blitzartig begriff Vasa die endlose Spirale von Gewalt und Rache: der Mord an Vater und Bruder führte zum Mord am Bruder oder Vater eines anderen. Die Vergewaltigung von Schwester oder Frau wurde mit umso grausamerer Vergewaltigung gerächt. Trost gegen die Trauer suchte man, indem man die Gegenseite noch mehr leiden ließ. Die Spirale von Hass und Rache setzte sich immer weiter fort, wurde immer stärker und

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