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Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln

Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln

Titel: Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Geiseln
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nach oben ragten. Er ließ los und kam mit einem unterdrückten Stöhnen am Boden an. Wie weit man den Aufprall wohl hörte? Doch sicherlich nicht bis in die Halle ... Er entfernte sich schnell, lief im Schutz der Hecken in einem Bogen auf die Straße und hielt es schließlich für das Klügste, zu seinem Auto zurückzukehren.
    Niemand folgte ihm. Er rief Johanna an, die gerade bei Mila Jankovic in Enskede war.
    »Ist es dringend?«
    »Könnte sein.«
    »Warte, ich gehe an einen Ort, wo ich in Ruhe reden kann.«
    Johanna entschuldigte sich bei Mila Jankovic für die Unterbrechung und ging zum Reden in die Küche. »Schieß los.«
    »Ich habe gehört, wie Vasa am Handy etwas über eine MP5 gesagt hat, und bin ihm bis zu einer Reifenhandlung in Johanneshov gefolgt«, sagte Timo. »Hier treffen sich ein paar Serben, die nicht wie ein Handarbeitskreis aussehen. Ich frage mich, ob ich Vasa weiter beschatten soll, wenn er aus der Reifenhalle herauskommt. Hast du aus der Schwester etwas herausbekommen?«
    »Ich habe erst angefangen«, flüsterte Johanna, auch wenn Mila wohl kein Finnisch verstand. »Mach auf jeden Fall weiter, wenn du schon mal dort bist. Über Navarro geht nichts vorwärts.«
    Johanna steckte das Telefon ein und kehrte über den kurzen Flur in das Atelier der Dachgeschosswohnung zurück. Von einer solchen Wohnung hatte sie selbst immer geträumt. Die dicken Balken des Ende des 19. Jahrhunderts erbauten Hauses trugen ein Schrägdach, in das Sprossenfenster eingesetzt waren.
    Was die Einrichtung betraf, war Mila Jankovics Wohnung allerdings alles andere als behaglich. An den Wänden und Holzpfeilern lehnten schwarze, düstere, beklemmende große Gemälde. Johannas Aufmerksamkeit richtete sich auf ein dunkles Bild, das an Picassos >Guernica< erinnerte. Darauf reckten schreiende Menschenfiguren inmitten der Zerstörung die Hände gen Himmel.
    »Es erzählt von meiner Mutter«, sagte die kleine, dunkelhaarige junge Frau. »Sie war im Zug unterwegs, um mich und meinen Bruder abzuholen und in Sicherheit zu bringen, als die Nato-Bomber zuschlugen. Durch die Detonation wurden ihr sämtliche Extremitäten abgerissen.« Johanna begann Milas Arbeiten ein wenig besser zu verstehen. »Das tut mir leid«, sagte sie.
    Mila zuckte mit den Schultern und zündete sich eine Zigarette an. Johanna fragte sich, wie sich eine angehende Künstlerin wie Mila eine solche Wohnung leisten konnte. Hatte der Vater sie für seine Tochter gekauft? Kümmerte sich ein Netzwerk serbischer Nationalisten um die Nachkommen der Kriegshelden?
    »Wie haben Sie dieses Atelier gefunden?«, fragte Johanna.
    »Es gehört einer Stiftung, die mir als Stipendium drei Jahre Wohnrecht eingeräumt hat.«
    An einer Wand, die ihren Putz verloren hatte, hing ein unge-rahmtes Gemälde, das einen kleinen Jungen zeigte. Es wich im Stil von den anderen Bildern ab. Menschliche Wärme ging von ihm aus. Davor brannte eine Kerze.
    »Das ist offenbar Ihr Bruder«, sagte Johanna.
    Mila stieß den Atem aus. »Mein Bruder Radovan«, sagte sie nachdenklich. »Meine Mutter hat solche sentimentalen Sachen gemalt. Ich habe mir nie sonderlich viel daraus gemacht.«
    Mila Jankovic strahlte Kompromisslosigkeit und Entschlossenheit aus. Sie hatte unverkennbar ihren Weg und ihren Stil gefunden, und niemand konnte mehr darauf einwirken. Sie machte einen offenen und ehrlichen Eindruck.
    »Nach Mutters Tod war mein Vater für Radovan das Ein und Alles. Alles, was mein Vater tat, war großartig und heldenhaft.« Mila lächelte, wurde aber im Nu wieder ernst. »Und als mein Vater dann gejagt und gefangen genommen und nach Den Haag gebracht wurde ...« Sie kniff die Augen zusammen und nahm einen Zug von der Zigarette, bevor sie fortfuhr. »Das war schlimmer, als wenn er gestorben wäre. All die Behauptungen über die Grausamkeiten, die mein Vater zugelassen hatte ... Radovan und Vasa beharrten steif und fest darauf, dass sie nicht stimmten. Vor allem Radovan wirkte, als wäre er kurz vorm Verrücktwerden. Er sagte, mit dem Demütigen und Entehren des Vaters müsse Schluss sein. Ich wollte nicht hören, was sie sagten. Es wäre besser gewesen, mein Vater wäre gestorben.«
    Johanna war verstummt angesichts der seelischen Zerstörung, die der Krieg in Menschen zurückgelassen hatte, die ihn physisch überstanden hatten. Es war eine stille Vernichtung, die noch Jahre und Jahrzehnte nach Kriegsende weiterging und die Menschen von innen zerfraß.
    »Nach dem Tod Ihrer Mutter hat sich Ihr

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