Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
den hell erleuchteten Hof der Reifenhalle verließ. Er musste sich voll auf die Verfolgung konzentrieren, denn Vasa war auf der Hut. Plötzlich wurde Timo selbst auf die Scheinwerfer eines Fahrzeugs im Rückspiegel aufmerksam. Ihm schien, als würde Vasa noch ein weiterer Wagen folgen. Oder folgte er nicht Vasa, sondern ihm, Timo? Er schmunzelte. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt zum Fantasieren. Der Landrover hielt in der Lädulasgatan in Södermalm vor dem sympathisch wirkenden, von jungen Leuten bevorzugten Cafe Gromada. Timo setzte den Blinker, parkte in sicherer Entfernung von dem Geländewagen und ging zu Fuß auf das Cafe zu.
»Du hast es getan?«, fragte Jasmin ungläubig an einem Tisch im Cafe Gromada. Sie trug eine bunte, selbst gestrickte Wollmütze, die sie auch drinnen nicht abgenommen hatte.
Vasa lächelte schwach und nickte, während er seine dampfende Teetasse hob.
»Das kann nicht wahr sein«, flüsterte Jasmin und beugte sich über den Tisch näher zu Vasa heran, obwohl das Stimmengewirr ringsum ohnehin alles überdeckte. »Was hast du ihnen gesagt? Hast du ihnen die Aktion in Finnland vorgeschlagen? Sie haben dich bestimmt für verrückt gehalten.«
»Am Anfang vielleicht. Aber sie sind nicht dumm. Und sie riechen das Geld. Vor allem, wenn es so viel ist.«
Während der Autofahrt hatte Vasa die Situation und Einstellung seiner Freunde analysiert. Nachdem ihnen Vasas wahres Motiv klar geworden war - die Befreiung seines Vaters -, war die Lage einen Augenblick lang aussichtslos gewesen. Torna, Zlatan und Stanko hatten zwar allen Respekt vor dem Oberst, aber Geld war ihnen trotzdem wichtiger. Für den kleinen Danilo und für Slobo war der Oberst bloß der Vater von Vasa, nicht mehr. Für die beiden zählte nur das Geld.
Bei Stanko war es freilich nicht das Geld an sich, sondern die Möglichkeit zum Glücksspiel, die es ihm bot. Er hatte sich unmittelbar vor den Raubüberfällen zum Spielen mit großen Einsätzen hinreißen lassen, und da die Beute überraschend klein ausgefallen war, war er in eine immer üblere Schuldenspirale hineingeraten. In letzter Zeit hatte er wegen seiner Spielschulden sogar Morddrohungen erhalten. Längst gefährdeten die Schulden auch seine Ehe; ein paarmal hatte er bereits seine Frau geschlagen, die es aber noch nicht gewagt hatte, Anzeige zu erstatten. Dafür hatte sich Stanko anderer Körperverletzungen schuldig gemacht, für die er auch mit Gefängnis bestraft worden war. Erstaunlicherweise war er der Einzige in der Gruppe, der über Gefängniserfahrung in Schweden verfügte.
Im Hinblick auf das große Ding in Finnland war Slobo der schwierigste Fall, denn dessen Hirngespinst, ein Popstar zu werden, stand in krassem Widerspruch zu der Tatsache, dass es nach dem Überfall in Helsinki notwendig wäre, komplett unterzutauchen. Andererseits steckte auch hinter Slobos Musikfantasien der Wunsch, viel Geld zu verdienen. »Du willst doch nicht im Ernst behaupten, dass sie den Überfall in Eskilstuna aufgegeben und durch deine neue Idee ersetzt haben?«, fragte Jasmin.
»Natürlich nicht. Ich habe gar nicht geglaubt, dass es so einfach gehen würde. Eskilstuna bleibt nach wie vor im Visier. Aber könntest du mir trotzdem von dem komischen Fest in der Residenz ein paar Zeitungsartikel mit Bildern besorgen und übersetzen? Oder mir sagen, wo ich Material darüber auf Schwedisch finde? Behalt aber nichts davon in deinem Computer, lösche alles, sobald du es ausgedruckt hast. Ich werde deine Mühe natürlich honorieren, sag mir einfach einen Preis ...« »Mach dir darüber keine Gedanken«, unterbrach ihn Jasmin. Sie schaute Vasa in die Augen und nahm seine Hand.
»Du hast deinen Bruder verloren ... Na klar helfe ich dir«, sagte sie mit einfühlsamem Blick in ihren schokoladenbraunen Augen.
Vasa schwieg eine Weile, dann grinste er.
»Schicke Mütze«, sagte er. »Selbst gestrickt?«
Jasmin nickte. »Peruanisches Modell. In der Schule habe ich Handarbeiten gehasst. Die anderen haben das Stricken zu Hause von ihren Müttern gelernt, aber...«
Vasa drängte sie nicht, weiterzureden. Von Slobo wusste er, dass Jasmin adoptiert worden und als Baby aus Rumänien ins reiche Westend von Espoo gekommen war. Darum sah sie auch etwas exotischer aus, als es bei Finninnen üblich war, jedoch nicht so, dass es ins Auge sprang. Ihr neues Zuhause war von den äußeren Umständen her wohlhabend gewesen, in geistiger und seelischer Hinsicht aber eher armselig. Die Eltern hatten für
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