Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
Präsidentenpalast auszugleichen.
Ab der Ecke von Mariankatu und Aleksanterinkatu war die Straße mit mobilen Verkehrshindernissen gesperrt. Nur die Straßenbahnschienen waren offen gelassen worden.
Torna atmete betont ruhig und umklammerte das Lenkrad. Er verließ sich auf Vasa. In letzter Zeit hatte Vasa viele Eigenschaften seines Vaters und seines Bruders Radovan an den Tag gelegt. Trotzdem war Torna überrascht von dem Eifer, mit dem Vasa die Befreiung seines Vaters betrieb. Offenbar hatte ihm Radovans Tod die Augen geöffnet. Torna hatte nie mit Vasa über das Urteil sprechen können, das über den Oberst verhängt worden war, hatte es auch nie erwartet. Wie hätte Vasa eingestehen können, dass sein Vater als ehrenhafter Mann der blinden Brutalität der paramilitärischen Freiwilligenkorps im Kosovo hätte Einhalt gebieten müssen?
Gleich zu Beginn des Krieges, nach der Auflösung des Staates, war es mit der Ehre ohnehin vorbei gewesen, ein einzelner Offizier hätte in dem Hexenkessel nichts ausrichten können. Auch Torna hatte es nicht gekonnt, auch er hatte zuerst die Familie und dann die Ehre verloren, und danach alles andere. Von da an war es in seinem Leben nur noch bergab gegangen, bis es in Schweden den Tiefpunkt erreicht hatte. Nun stellte sich die Frage, ob er im Schlamm stecken bleiben oder einen neuen Aufstieg versuchen würde. Torna hatte beschlossen, es noch einmal nach oben zu schaffen, zusammen mit den anderen, ein letztes Mal...
Torna kniff die Augen zusammen. Auf dem Bürgersteig waren mehrere Polizeifahrzeuge und einige Polizisten zu erkennen. Weiter vorne standen zwei große Übertragungswagen des Fernsehens. Die Atmosphäre hatte etwas Verschlafenes, nichts deutete darauf hin, dass in dem angrenzenden Gebäude ein großes Fest stattfand.
»Was ist, geht's los?«, fragte Torna unwirsch.
»Deswegen sind wir doch hier«, antwortete Slobo und umklammerte die Maschinenpistole auf seinem Schoß.
Der Eifer in Slobos Stimme ärgerte Torna ein wenig, aber andererseits war genau dieser Eifer notwendig.
Beide zogen sich eine schwarze Maske über das Gesicht. Torna behielt die Geschwindigkeit bei, obwohl die Metallabsperrung der Polizei immer näher rückte. Die leuchtenden Straßenlampen vor dem schwarzen Himmel glitten rhythmisch an ihrem Bewusstsein vorbei, das wie in jeder gefährlichen Situation auf unverwechselbare Art geschärft war. Außer dass jetzt nicht einmal besondere Gefahr bestand. Sie brauchten keine Angst zu haben, auf eine Mine zu fahren oder dass hinter der nächsten Ecke albanische UCK-Guerillas mit Panzerfäusten lauerten, wie es Torna im Juni 1998 ergangen war, als er die Zehen an seinem rechten Fuß verloren hatte.
»Die Eins«, sagte er ins Mikrofon.
»Wir sind an der Eins, nur hereinspaziert«, erwiderte Zlatan, als ginge es um eine Einladung zum Tee. Er war schon von seiner Laufbahn beim Geheimdienst in Belgrad her mit allen Wassern gewaschen, ihn brachten die bevorstehenden Ereignisse des Abends nicht aus der Fassung, ganz gleich, was kommen mochte. Für Stanko galt das ohnehin. Torna machte sich eher wegen Vasa und Danilo Sorgen und wegen Slobo, der wortkarger als sonst neben ihm saß.
Tomas Blick sprang zu dem immer näher kommenden Seiteneingang der Residenz. Er nahm ein wenig den Fuß vom Gas und hielt das Lenkrad stabil im Griff. Die Verantwortung lag nun bei ihm, da Vasa vorübergehend außer Gefecht gesetzt war. Aber Torna trug diese Verantwortung gerne.
»Überraschung, Überraschung«, sagte Slobo bemüht scherzhaft. Der am nächsten stehende Polizist blickte verdutzt auf das Auto, das mit unverminderter Geschwindigkeit auf die Absperrung zufuhr. Das Viehgitter am Bug des Toyota stieß das Hindernis mit einem Schlag zur Seite. Das war das erste Geräusch der Aktion, die erste Botschaft an das Gehirn, die besagte, dass jetzt alles auf dem Spiel stand. Torna blickte kurz in den Spiegel und sah den Polizisten aufgeregt in sein Funkgerät sprechen.
Zlatan starrte grimmig geradeaus, während sich der schwere Rangerover mit hohem Tempo durch das Eisentor vor dem Präsidentenpalast schob. Die Eisenstangen kratzten an den Flanken des Geländewagens, aber das Tor war nur Dekoration, im Gegensatz zu den aus dem Boden ausfahrbaren Terrorhindernissen in besser ausgerüsteten Städten. »Weißt du, was Nietzsche jetzt gesagt hätte?«, fragte Zlatan an Stanko gerichtet, wobei er kräftig aufs Gaspedal trat. »Freie Geister...« »Dein Nietzsche würde sich in die Hose
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