Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
Schweigen.
»Sie übernehmen dafür aber die volle Verantwortung«, sagte der Sendeleiter schließlich.
»Ja, ja, ich übernehme die volle Verantwortung. Machen Sie sich bloß nicht ins Hemd.«
Wütend beendete Johanna das Gespräch und richtete den Blick wieder auf die Bilder mit den erschütternden Gesichtern der Festgäste. Sie hätte am liebsten weggeschaut, aber die Augen vor den Tatsachen zu verschließen half jetzt am allerwenigsten.
»So, wir sind auf Sendung«, sagte der Regisseur angespannt. »Das nenne ich echtes Reality-TV.«
Auch in der Residenz war die Live-Schaltung offenbar bemerkt worden. Die Kamera senkte sich bis knapp über den Boden und richtete sich dann schräg nach oben. Das gesamte Bild wurde von einer Löwenskulptur ausgefüllt, auf der ein Mann stand. Der Bildwinkel ließ Vasa Jankovic bedrohlich erscheinen. Er richtete den Blick direkt in die Kamera. Das Flackern seiner dunklen Augen drang durch den Bildschirm hindurch. Johanna holte tief Luft. Nun begann der eigentliche Kampf.
33
Durch die Kerzenflamme hindurch betrachtet, flimmerte der ganze Präsidentenpalast. Das blaue, unregelmäßige Blinken der Polizeifahrzeuge mischte sich mit der orangen und gelben Masse im Vordergrund. Jasmin rückte den Kerzenständer nur dann aus dem Sehfeld des Fernglases, wenn sie etwas ganz genau erkennen wollte. Sie löste sich von dem Okular und strich sich zur Entspannung ein paarmal über die Lider. Wenn man mit bloßen Augen aus dem Fenster schaute, war der Palast nur ganz klein in der Ferne zu erkennen. Die Zweizimmerwohnung in der Bernhardinkatu lag hinsichtlich der Operation nahezu ideal. Sie gehörte Jasmins ehemaliger Klassenkameradin Elisa - genau genommen natürlich deren Eltern, Elisa wohnte nur in dem »Anlageobjekt«, wenn sie nicht gerade in Goa oder Peru war. Das Zimmer mit der hohen Decke war spartanisch möbliert. Holzboden, in der Ecke ein Kachelofen, ein abgenutztes Sofa, Tisch und Regal.
Jasmin schnaubte, als sie an Elisa dachte. Vielleicht hatte Vasa Recht, vielleicht sollte sie das Abitur nachholen und an die Uni gehen. Wenn es möglich war, mit Elisas leerem Kopf Folkloristik und Kunstgeschichte zu studieren, warum sollte sie dann nicht zu etwas Ähnlichem fähig sein? Jasmin hatte mitbekommen, was Vasa für seine Examensarbeit alles getan hatte, und gemerkt, dass ein Studium an der Uni etwas vollkommen anderes war als die Schule. Ihre Mutter hatte ihr früher für jede Eins in einer Mathe- oder Englischarbeit einen Hunderter und für jede Zwei einen Fünfziger versprochen.
Leider war die Mutter billig davongekommen. Ihr Vater hatte für die Klassenarbeiten zu wenig Interesse aufgebracht, um Belohnungen auszusetzen.
Jasmins Gedanken sprangen zu Themen, an die sie eigentlich nicht denken mochte. Wie war es ihren Adoptiveltern damals nur gelungen, die Behördenvertreter in dem Gespräch vor der Adoption so gründlich an der Nase herumzuführen? Andererseits wunderte sie sich darüber nicht, denn Vater und Mutter waren ja auch geschickt genug, ihre Kunden und Geschäftspartner zu manipulieren, warum also nicht die Adoptionsbehörden. Die hatten wahrscheinlich überhaupt keine Chance gehabt, zu merken, dass da jemand gar nicht wirklich ein Kind, sondern nur Füllstoff für das niedliche Kinderzimmer in der Luxusvilla suchte. Jasmin wollte sich ihre Verbitterung nicht eingestehen. Hätten Vater und Mutter sie zu überreden versucht, wieder zurück nach Hause zu kommen, hätte sie vielleicht sogar darüber nachgedacht.
Auf der Mattscheibe des kleinen tragbaren Fernsehers in der Zimmerecke erschien jetzt Vasas Gesicht. Das entschlossene Gesicht eines gut aussehenden Mannes, das Jasmins Herz höherschlagen ließ. Slobo tauchte nicht im Bild auf. Allerdings hätte man von ihm auch nicht mehr als die Augen gesehen. Drei Jahre zuvor hatten sie Eindruck auf Jasmin gemacht, aber inzwischen gelang ihnen das nicht mehr. Jetzt erkannte sie darin nur noch den unangenehmen Blick eines krankhaft eifersüchtigen Mannes.
Vasa starrte in das Objektiv der Kamera auf der Schulter des Kameramannes und sprang von dem Löwen herab. Endlich lief alles, seine Selbstsicherheit wuchs von Minute zu Minute. Die Finnen würden ihnen nichts anhaben können.
Er wünschte, Radovan könnte all das hier sehen.
»Herr Präsident«, sagte er. »Und Frau Premierministerin. Begeben Sie sich bitte mit Ihrer Gattin beziehungsweise Ihrem Gatten in den Spiegelsaal.«
Präsident Koskivuo blickte sich unsicher und
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