Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
Urteile zu fällen, aus mehreren tausend Kilometern Entfernung war es umso schwerer. Nicht alle verstanden oder wollten verstehen, dass die schwächere Partei - ob es sich nun um Individuen oder um ganze Völker handelte - nicht unbedingt auch die sanftmütigere war, wenn sie die Chance erhielt, gegen den Stärkeren vorzugehen.
Die moralischen Ansprüche, die die außenpolitische Führung Finnlands an andere Länder stellte, konnten sich im Gegenzug durchaus auch gegen Finnland selbst wenden; Moral war nicht schwarzweiß, die Dinge waren vielschichtig und mannigfaltig, und selbst mit der ungewollten Unterstützung einer Partei machte man sich die andere Partei oft automatisch zum Feind. Auch in Finnland war man gezwungen, auf Anschläge gefasst zu sein, denn es gab im Ausland mittlerweile genügend Gruppierungen, die auf die Idee kommen konnten, sich auf ebendiese Weise bemerkbar zu machen: südamerikanische Umweltaktivisten, die gegen finnische Zellulosefabriken in ihren Ländern protestierten, ebenso wie Afghanen, Libanesen oder Kongolesen, in deren Heimat sich finnische Truppen in komplizierte Konflikte einmischten. Je mehr Finnen im Ausland eingesetzt wurden, umso mehr wuchs die Gefahr einer Krise. Mittlerweile konnte es in Buenos Aires ebenso gut wie in Zentralafrika passieren, dass die finnische Flagge in Brand gesetzt wurde. Trotzdem konnten sich die Finnen, wie auch die Vertreter anderer Staaten, nicht aus Angst vor Konflikten einfach aus allen internationalen Belangen zurückziehen.
Johanna fuhr zusammen, als der Regisseur plötzlich sagte: »Ich glaube, bald haben wir vier Millionen Zuschauer.«
»Sie lassen den größten Teil der Leute raus«, stellte Johanna mit einem Anflug von Erleichterung fest.
Im selben Moment erkannte sie den Justizminister, der in einer großen Gruppe von Leuten auf dem Weg nach draußen war, den Kopf gesenkt, wie in Gedanken.
Aber dann tauchte auf einmal Jankovic hinter dem Minister auf, packte ihn am Arm und stieß ihn durch die Tür in den Spiegelsaal. Was Jankovic dabei brüllte, war nicht zu verstehen.
Jetzt begriff Johanna auch, warum Vasa eine Live-Schaltung aus der Residenz haben wollte. Sie wählten die wichtigsten Personen als Geiseln aus, und sie mussten irgendwo jemanden vor dem Fernseher sitzen haben, der ihnen bestätigte, dass die Reporter sie nicht täuschten und wichtige Würdenträger hinausließen. Diese Kontaktperson am Bildschirm musste ein Finne sein. Oder eine Finnin.
Johanna machte die Tür des Ü-Wagens auf und ging hinaus. Es war noch kälter geworden, eine ordentliche Frostnacht war zu erwarten. Johanna blickte nach oben und registrierte, dass sich auf dem Dach des Obersten Gerichtshofs etwas bewegte. Die Scharfschützen des SK Bär suchten sich ihre Stellungen. Johanna ging an der Kanzlei des Präsidenten vorbei, die leer und geschlossen war. Von dort gelangte man in die Residenz, und diesen Weg hatten die Geiselnehmer abgeschnitten.
In der Nähe des Seiteneingangs in der Mariankatu blieb Johanna hinter der Reihe der uniformierten Polizisten stehen. Nach und nach strömten die Leute aus der Residenz auf die Straße. Es standen Busse für sie bereit, aber bei vielen löste sich der Schock schon vor dem Einstieg in die Fahrzeuge, sie brachen in Tränen aus oder fielen sich gegenseitig um den Hals. In der Ferne, hinter der Absperrung, wogte die Menge der Schaulustigen, der Fotografen und Journalisten. Die Luft flimmerte vor einer Sensation, von der überall auf der Welt berichtet werden würde. Vasa Jankovic bekommt eine Menge Publikum, dachte Johanna. Hoffentlich begriffen die Journalisten, dass auch die Geiselnehmer die Nachrichten verfolgen konnten.
Hedu, Vuokko und einige weitere Kollegen von der KRP und der Kripo Helsinki sprachen bereits mit den ersten Freigelassenen. Hedu hatte sich inzwischen auch nach dem Schicksal des verwundeten Sicherheitsbeamten erkundigt. Der Mann musste operiert werden und würde erst danach reden können. Aber es gab auch so mehr als genug Augenzeugenberichte.
Johanna winkte Hedu und Vuokko zur Seite.
»Die Geiselnehmer haben irgendwo einen Helfer vor dem Fernseher sitzen.« Johanna sprach schnell und laut, denn ringsum hallte der Lärm der aufgeregten Menschen und der Fahrzeuge wider. »Es muss ein Finne sein, der die Gesichter der geladenen Gäste kennt und bestätigen kann, dass keine wichtige Person die Residenz verlässt. Das ist jetzt ein Schuss ins Blaue, aber einer von Vasas serbischen Komplizen hat eine
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