Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
finnische Freundin. Jasmin Ranta. Sobald wir mit einigen Freigelassenen gesprochen haben, versuchen wir herauszufinden, wo sich die Frau im Moment aufhält.«
Hedu und Vuokko nickten und kehrten wieder in die Menge zurück. Johanna suchte sich unter den Gästen, die in die Busse geleitet wurden, einen ruhig wirkenden Kadetten heraus.
Der junge Mann beantwortete ihre Fragen dankenswert klar und erschöpfend. Die Situation in der Residenz war ungefähr so, wie Johanna sie sich vorgestellt hatte. Und es war unmöglich, unbemerkt in das Gebäude hineinzukommen.
Johanna bedankte sich bei dem Kadetten und machte sich wieder auf den Weg zur Einsatzleitung. Jemand musste die Zügel fest in die Hand nehmen. Sie hatten jetzt so viele Informationen, wie man unter diesen Umständen erwarten konnte. Weiter weg, am Ende der Aleksanterinkatu, war eine riesige Schar von Fotografen hinter der Absperrung zu erkennen.
Johanna stellte fest, dass im Prinzip alle Voraussetzungen für einen erfolgreichen Polizeieinsatz gegeben waren. Die Einsatzleitung und der Führungsstab saßen in zwei nebeneinanderstehenden Fahrzeugen, dazwischen liefen ständig Männer hin und her, Beobachtungen und Meinungen wurden ununterbrochen ausgetauscht. Es wurden Befehle erteilt, auch die Entscheidungsbefugnisse waren an sich klar. Alles hing von der Kompetenz und der Erfahrung der Verantwortlichen ab. Doch leider verfügte an diesem Abend keiner über ausreichend Erfahrung, und darum fehlte die Voraussetzung, richtige, fundierte Entscheidungen zu treffen. Johanna wollte gerade in den Bus des Führungsstabs steigen, als ein ihr unbekannter Mann mit einer Papierrolle in der Hand auf sie zutrat. »Man hat mich gebeten, die Grundrisszeichnungen der Residenz samt Heizungs- und Belüftungskanälen zu bringen«, sagte der Mann, der eine Brille trug.
»Kennen Sie das Gebäude?«
»Ich bin einer der Hausmeister.«
»Kommen Sie herein.«
Johanna stieg in den Bus, merkte aber, dass dort eine Besprechung im Gange war. An zwei Tischen saß die höchste zur Verfügung stehende Polizeiführung: der Stellvertreter des Polizeidirektors im Innenministerium, der stellvertretende Leiter der KRP, der Vizechef der Sicherheitspolizei und der stellvertretende Präsident des Helsinkier Polizeipräsidiums - die Männer, auf deren Schultern die operative Führung dieses Einsatzes lastete.
Johanna trat gar nicht erst ein, sondern ging zu einem in der Nähe geparkten Polizeiauto und breitete die Papierrolle auf der Motorhaube aus. Im selben Häuserblock wie die Residenz befand sich auf der Nördlichen Esplanade und in der Helenankatu der Oberste Gerichtshof und in der Aleksanterinkatu das Wirtschaftsministerium.
»Ich habe gehört, dass vom OGH aus ein alter Verbindungsgang in die Residenz führt«, sagte Johanna. »Wissen Sie, wo der ist?«
»Hier«, sagte der Mann und deutete mit dem Finger darauf. »Aber er ist nicht in Gebrauch.«
»Kommt man dort trotzdem durch?«
»Es ist kein Notausgang, kann sein, dass da irgendwelches Gerumpel steht. Stühle oder so etwas.«
Sie unterhielten sich eine Weile und studierten die Zeichnungen. Dann traten Sohlman und Helste zu ihnen.
»Hast du schon gehört, was die Serben da drinnen haben?«, fragte Helste.
»Nein. Meinst du etwas, das zu dem Stativ gehört?«
»Angeblich handelt es sich um das Stativ einer Granatmaschinenwaffe. Das ist kein Terrorismus mehr«, sagte Helste und schaute auf die Residenz. »Das ist Krieg.«
Johanna überlegte einen Moment. »Ich gehe durch das OGH-Gebäude hinein.«
Helste sah sie mit strenger Miene an. »Das kannst du nicht. Das Risiko ist zu groß.«
»Ich weiß besser als du, was für ein Risiko ich eingehen kann.« »Ich meine nicht das Risiko für dich, sondern für die Geiseln.« »Ich werde keine zusätzliche Gefahr für sie darstellen«, sagte Johanna und versuchte damit zugleich sich selbst zu überzeugen. »Im Moment strömen Leute aus der Residenz, es herrscht Betrieb, das verleiht einen gewissen Schutz. Bald ist wieder alles dicht, dann sind nur noch die Geiseln der obersten Kaste drin und es ist zu spät. Ich gehe jetzt.« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat Johanna zu Sohlman, nahm ihn zur Seite und teilte ihm ihren Plan mit. Sohlman protestierte nicht, denn er profitierte selbst davon, wenn sich herausstellte, dass die Verbindung vom OGH aus offen war.
Als Nächstes rief Johanna Timo an. Der konnte manchmal stur und anstrengend sein, aber wenn es eng wurde, konnte man sich auf seine
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