Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln
engen, stockfinsteren Gang gegen die aufkommende Klaustrophobie an. »Gang« war eigentlich eine viel zu vornehme Bezeichnung für den Schacht mit den unverputzten Backsteinwänden.
Der Hausmeister des Obersten Gerichtshofs war geholt worden und hatte, zusammen mit dem Hausmeister der Residenz, Johanna durch diverse Lagerräume zu der alten Tür geführt, die nicht einmal von einem Rahmen eingefasst war. Einen Schlüssel hatte niemand, also wurde das Schloss gewaltsam geöffnet.
Johanna schaltete kurz die kleine Fingerlampe an, machte sie aber sofort wieder aus, nachdem sie gesehen hatte, dass der Weg frei war. Sie musste seitlich vorangehen, um zwischen den Wänden hindurchzupassen. Falls es noch enger würde, käme sie nie in die Residenz hinüber. Und selbst wenn, war es unsicher, ob der Schlüssel in ihrer Tasche dort ins Schloss passte und ob sie die betreffende Tür überhaupt aufbekam. Dem Hausmeister zufolge konnte in dem Abstellraum auf der anderen Seite wer weiß was für Zeug stehen.
Johanna ging nicht aus dem Kopf, was Hedu ihr wenige Minuten zuvor mitgeteilt hatte. In den Polizeiregistern stand über Jasmin Ranta nichts. Laut Einwohnermeldeamt wurde sie »im Ausland« geboren, und im Alter von knapp einem Jahr waren Jaakko und Päivi Ranta aus Espoo als ihre Eltern anerkannt worden. Das Mädchen war also ein Adoptivkind. Ob das etwas zu bedeuten hatte?
Johanna blieb stehen und lauschte. Kein einziger Laut aus der Residenz drang bis hierher. Sie ging weiter und musste ungewollt an die Tunnelratten im Vietnamkrieg denken: speziell ausgebildete Soldaten, die in von Vietcong gegrabene, manchmal kilometerlange Tunnels vordrangen, wo die übelsten Fallen auf sie warten konnten. Schließlich gelangte Johanna zu der Tür am Tunnelausgang. Mit Tränen in den Augen kämpfte sie gegen den Nies- und Hustenreiz an, denn es war nicht gerade verlockend, in diesem dunklen, engen Gang durch Kugeln zu sterben, die durch die Tür schlugen.
Allerdings war es ziemlich unwahrscheinlich, dass die Geiselnehmer etwas von dem Verbindungsgang wussten. Möglich war es dennoch. Und alles, was möglich war, musste beachtet werden.
Johanna ließ kurz die Lampe aufleuchten und schob behutsam den Schlüssel ins Schloss.
Im selben Moment erstarrte sie. Durch die Tür hörte sie einen Wortwechsel in serbischer Sprache. Sie hielt den Atem an. Dann wurden die Stimmen leiser. Die Männer waren offenbar nur an dem Abstellraum vorbeigegangen. Das heißt, die Frage war, ob die Männer gerade im Abstellraum gewesen waren oder ob man ihre Stimmen vom Gang aus gehört hatte. Johanna wusste, wie sinnlos es war, darüber nachzugrübeln, aber das tat man nun einmal automatisch.
Sie wartete kurz im Dunkeln ab, doch die Zeit drängte. Millimeter für Millimeter drehte sie den Schlüssel, bis das Schloss mit einem kleinen Knacken aufging.
Mit äußerster Vorsicht drückte Johanna die Tür auf. Das fahle Licht einer Neonröhre fiel durch den Türspalt. Dann stieß die Tür auch schon gegen ein weiches Hindernis.
Johanna lugte durch den Spalt und sah, dass die Tür von einem Stapel Kartons blockiert wurde. Sie drückte mit aller Kraft dagegen, und es gelang ihr, die Kartons so weit zu verschieben, dass die Tür um einige weitere Zentimeter aufging. Johanna schlüpfte in den Abstellraum, schloss die Tür hinter sich und schob die Kisten wieder an ihren Platz. Was sie unruhig machte, war, dass in dem Abstellraum Licht brannte. Hatten die Serben den Raum für irgendetwas vorgesehen?
Johanna war mit dem Hausmeister den Grundriss durchgegangen und hatte sich alles eingeprägt, sodass sie theoretisch wusste, was hinter der nächsten Tür auf sie wartete - aber eben nur theoretisch.
Für langes Zögern aber reichte die Zeit nicht. Vorsichtig öffnete sie die dicke Tür einen Spalt. Von links aus dem Staatssaal war Stimmengewirr zu hören. Rechts führte eine Tür in den Spiegelsaal. Der kleine hallenartige Raum davor war leer. Rasch schlüpfte Johanna aus dem Lagerraum und ging in die gegenüberliegende Damentoilette. Auch dort war niemand. Sie versteckte ihr auf lautlos gestelltes Handy unter den benutzten Papierhandtüchern im Abfalleimer, dann musterte sie sich im Spiegel. Wie ein geladener Gast sah sie nicht aus, ebenso wenig wie eine Angestellte der Residenz. Da half es auch nicht, sich die Haare ein bisschen zu richten.
Innerlich fluchend kehrte Johanna in die kleine Vorhalle zurück, wo jetzt Rufe in serbischer und englischer Sprache zu
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