Remes, Ilkka - 8 - Tödlicher Sog
dem Haus gejagt, damit sie draußen gegen einen Ball traten. Das Spiel, das sie von einem Klassenkameraden ausgeliehen hatten, musste auf der Stelle zurückgebracht werden. Und dann war da noch Ronis zuweilen manische Konzentration auf eine einzige Sache ... Das war Tero manchmal seltsam vorgekommen. Er selbst hatte schon als Kind von seinem Vater gelernt, dass eine breite Allgemeinbildung viel wertvoller war als Spezialwissen in einem winzigen Teilbereich des Lebens. Auch das spätere Schicksal seines Vaters hatte diese Auffassung nicht schmälern können, obwohl sie bei Tero während seiner Schwierigkeiten als Jugendlicher kurzzeitig in Vergessenheit geraten war. Und auch danach noch ... Hätte er nur Zeit gehabt, sich wie sein Vater viel eingehender mit Geschichte, Philosophie, Kunst und Kultur zu beschäftigen ... Aber die Firma und die Familie hatten immer so viel Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, dass alle Gedanken an eine Allgemeinbildung, die ihn wenigstens selbst zufriedenstellen würde, nur noch ferne Träume waren: wenn er die Firma einmal verkaufen würde, wenn Roni mal auf eigenen Füßen stünde ... Und was hatte er dafür getan, Roni auf den Weg der Bildung zu führen? Der Junge war mit Scheuklappen durch die Gegend gerannt, vom Kart zu immer schnelleren Autos. Und natürlich hatte Tero seinen Sohn fördern wollen, damit dieser das Gefühl hatte, erfolgreich zu sein. In der Schule war Roni trotz seiner Leidenschaft für das Hobby einigermaßen gut über die Runden gekommen, aber er war immer ein mehr oder weniger verschlossener Sonderling gewesen, aus dessen Gedankenwelt und Gefühlsleben man nicht so recht schlau wurde. War er überhaupt zur Empathie fähig? War er in der Lage, Gutes zu tun? Konnte er Gut und Böse unterscheiden, wie man es von einem normalen Menschen erwartete? Der Junge hatte so gut wie nie über seine persönlichen Angelegenheiten gesprochen, ganz gleich, wie ernsthaft Tero danach gefragt hatte. Vor allem in dessen Pubertät hatte er das Gefühl gehabt, den echten Kontakt zu Roni verloren zu haben und nie wiederzufinden. Von den beiden Jungen war Valtteri viel offener und redseliger gewesen. 31
Das hatte er wohl von seinem Vater geerbt, dem Förster aus Kuopio, der Jugendliebe seiner Mutter Heli.
Teros Gedanken wanderten in Ronis frühe Kindheit zurück. War er damals fähig gewesen, dem Jungen genügend Geborgenheit zu geben? Er erinnerte sich, wie er selbst als kleiner Junge im Flugzeug gesessen und Angst vor einem Absturz gehabt hatte. Sein Vater hatte ihn auf den Schoß genommen und ihm die weißen Wolken unter ihnen gezeigt, die wie schwebende Wattebäusche über den Feldern ausgesehen hatten. Bei dem Anblick hatte sich ihm der Magen zusammengekrampft, aber auf dem Schoß seines Vaters hatte er sich vollkommen sicher gefühlt. Hatte er selbst Roni jemals ein solches Gefühl vermitteln können? Ja, das hatte er, wagte sich Tero aufrichtig zu sagen. Tero blieb vor der Tür zum Kaminzimmer im Keller stehen. Neben der Musik drang das klingende Metallgeräusch von Hanteln und Gewichten nach draußen.
Roni spürte, wie ihm Schweißperlen über die Stirn rannen. Er stemmte Gewichte, während Rammstein aus den Lautsprechern dröhnte. An den nachgedunkelten Wandpaneelen hing das rote Wappen der Provinz Viipuri. Durch das Kellerfenster sah man, dass der Mittwochnachmittag bereits in den Abend überging.
Schließlich setzte Roni die Hantel ab und nahm das Kopfband. Schon lange widmete er dem Stärken der Nackenmuskeln seine besondere Aufmerksamkeit.
Die Tür ging auf, und sein Vater kam herein. »Wie läuft's?«, fragte er düster und schaltete die Musik aus.
Roni begnügte sich mit einem Brummen. Er sah, wie sein Vater ständig darum kämpfen musste, nicht die Nerven zu verlieren.
»Ich habe dir einen Flug nach Malaga gebucht«, sagte Tero. »Für wann?« »Für Freitag. Es ist besser, wenn du ein bisschen Abstand gewinnst. Vorher kannst du in aller Ruhe mit der Polizei reden.
Aber dann wirst du in Spanien gebraucht. Ich habe Marcus angerufen, er bittet dich, ihn zu besuchen.«
»Er bittet mich? Mir hat er nichts gesagt...«
Der Vater zwinkerte Roni zu, was kein bisschen zu seiner ernsten Miene passte. »Ich habe ihm ein wenig auf die Sprünge geholfen. Ihr könnt euch einfach kurz treffen.«
»Du hast Marcus gegenüber Andeutungen gemacht...«
»Ich habe überhaupt nichts angedeutet, natürlich nicht. Außerdem kann man sich auf den Mann verlassen. Ich habe ihm
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