Remes, Ilkka - 8 - Tödlicher Sog
etwas ins Krankenhaus bringen? Ich habe mir große Sorgen gemacht, weil du mich nicht angerufen hast. In welcher Klinik liegst du?«
»Es ist alles in Ordnung ... Der Arzt kommt gerade, ich muss aufhören.« Hastig unterbrach Toomas die Verbindung. Ihm war äußerst unangenehm zumute.
Er blickte auf die Uhr seines Handys - Tero und Roni würden bald in Stockholm-Arlanda landen. Er betete aus tiefstem Herzen, dass sie beim Beschaffen von Informationen mehr Glück hatten, als er es in den letzten Jahren gehabt hatte.
Toomas wusste, dass im Zusammenhang mit der Estonia unter Umständen Dinge enthüllt würden, die für seinen Vater nicht gerade schmeichelhaft waren. Trotzdem wollte er die Wahrheit wissen.
Sein Vater war eine rätselhafte Figur für ihn geblieben, ein schwieriger Mensch, der viel verlangt hatte und oft verreist gewesen war, vor allem in Toomas' früher Kindheit. Erst als Teenager hatte er die Gelegenheit erhalten, seinen Vater besser kennenzulernen, nachdem dieser sich unter dubiosen Umständen eine Verletzung zugezogen und daraufhin mehrere Monate lang zu Hause gelegen hatte. Da war Toomas nach und nach klargeworden, dass sein Vater in die Schießerei nicht zufällig hineingeraten war, sondern weil er regelmäßig in kriminellen Kreisen verkehrte.
Daher war die Erkenntnis, dass sein Vater bei seiner Arbeit auf der Estonia Schmiergelder für die Organisation von Schmuggelfahrten kassiert hatte, keine Überraschung für Toomas gewesen. Aber ob ein Zusammenhang zwischen den Schmiergeldern und dem Verschwinden des Vaters bestand, 143
wusste Toomas noch immer nicht mit Sicherheit. Die Reederei Estline, das estnische Rote Kreuz und das estnische Innenministerium hatten seinen Vater allerdings als gerettet gemeldet. Das war Tatsache. Die entsprechenden Angaben waren von den schwedischen Gesundheitsbehörden dann sogar mehrfach überprüft worden, denn die Liste der Geretteten durfte schlicht und einfach keine Fehler enthalten.
Toomas und Sirje waren daraufhin von der schwedischen Botschaft angerufen worden. Man hatte ihnen die Rettung ihres Vaters bestätigt und mitgeteilt, wann er nach Hause kommen würde. Aber dann war er doch nicht in dem angekündigten Flugzeug von Stockholm nach Tallinn gesessen. Auch in den nächsten Maschinen war er nicht gewesen. Sein Name wurde von der Liste der Geretteten gestrichen, und man erklärte ihn für verschollen.
Toomas war davon überzeugt, dass sein Vater mit sieben weiteren Personen bei dem ersten Rettungsflug mitgenommen worden war - bei dem Flug, der in dem Bericht der Untersuchungskommission zensiert worden war. Auch alle anderen anfangs als Überlebende gemeldeten, später aber verschollenen Personen waren Esten gewesen - entweder Mitglieder der Estonia -Besatzung oder Personen, die mit dem Service an Bord zu tun hatten.
Der Bekannteste unter ihnen war Avo Piht, der zweite Kapitän der Estonia, der in der Nacht des Unglücks nicht im Dienst war, sondern eine private Reise nach Stockholm machte. Am Tag nach dem Untergang sendete eine Radiostation in Tallinn ein Interview, in dem ein Mitarbeiter des schwedischen Roten Kreuzes berichtete, er habe im Rettungshubschrauber mit Piht gesprochen. Zwei Tage später erklärte Bengt Erik Stenmark, der Sicherheitschef der schwedischen Seefahrtsbehörde, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, die Unfallermittler hätten mit Piht geredet. Weder Stenmark noch Reuters korrigierten die Meldung, aber Stenmark musste später sein Amt niederlegen. Auch die estnische Polizei glaubte, dass Piht lebte, und ließ über Interpol nach ihm fahnden.
Das Verschwinden der Personen hätte aller Vernunft nach gründliche Nachforschungen in Gang setzen müssen, aber im Fall der Estonia-Passagiere folgte einfach Stille.
Um die einzelnen Informationsperlen zu einer logischen Ereigniskette zusammenfügen zu können, musste man Lücken füllen. Was sollte man zum Beispiel aus dem Umstand schließen, dass im letzten Moment noch zwei Lkws auf die Estonia gelassen wurden, die kurz zuvor mit Geleitschutz im Hafen von Tallinn eingetroffen waren? Später stellte man fest, dass auf der Ladeliste der Reederei ein Lkw fehlte und ein zweiter ohne jede Zusatzinformation handschriftlich nachgetragen worden war. Und Nordström & Thulin, eine Miteigentümerin der Estonia, hatte für den nächsten Morgen beim schwedischen Straßenbauamt Begleitfahrzeuge für einen Spezialtransport vom Hafen zum Flughafen Arlanda bestellt. Dort wiederum wartete am Abend
Weitere Kostenlose Bücher