Renate Hoffmann
nickte erneut. „Du fehlst mir auch sehr...“
Henning nahm sie bei der Hand. Um sie herum war dichter Nebel, was jedoch eher nebensächlich war. Die Wolken küssten den Boden und wälzten sich langsam vorwärts. „Du musst gehen, nicht wahr?“ Henning nickte. Er wich einen Schritt zurück.
„Versprich mir nur, dass du mich nicht vergisst...“, sagte er und streichelte ihr über die Wange.
„Ich werde dich nie vergessen...“
Sie schaute ihm nach, bis die Wolken ihn in der Ferne verschluckten. Es tat weh, ihn gehen zu sehen, es tat weh, dass er am Horizont immer kleiner wurde und schließlich verschwand. Und doch wusste Renate, dass es an der Zeit gewesen war ihn endlich gehen zu lassen.
Kapitel 92
Renate stand mit rosafarbenen Putzhandschuhen auf den Zehenspitzen vor dem Spiegel im Bad und schrubbte über die zahllosen Zahnpastaflecken, die eingetrocknet auf der verspiegelten Fläche klebten. In diesem Moment fragte sie sich, warum Henning nicht wie alle anderen Menschen Zähne putzen konnte. Wie oft hatte sie ihn gebeten besser aufzupassen. Wie oft hatte sie sich bei ihm darüber beschwert. Die kleinen Flecken schmierten über den Spiegel. Das war Phase zwei. Erst klebten sie, dann schmierten sie, und in Phase drei würde Renate sie besiegen.
Phase eins bis drei dauerte im Schnitt acht Minuten. Acht Minuten verschwendeter Zeit. Denn nicht einmal eine Woche später würde sie wieder mit ihren rosafarbenen Putzhandschuhen hier stehen und den Flecken zu Leibe rücken. Und als wäre es nicht genug, dass Henning den Unterschied überhaupt nicht bemerkte, er heilt es auch noch für völlig überflüssig.
Stolz betrachtete Renate den sauberen Spiegel. Dieses gute Gefühl wurde wenige Sekunden später im Keim erstickt, als ihr Blick ins Waschbecken schweifte, wo sich eingetrocknete Zahnpastaränder einen Wohnraum geschaffen hatten. Renate konnte nicht verstehen, was so schwer daran war, mit Wasser nachzuspülen, wenn man den Schaum ins Waschbecken gespuckt hatte. Dieser minimale Aufwand ersparte weitere sechs Minuten, wenn man die Zeit mit einbezog, die sie brauchte, um die Haarbüschel aus dem Ausguss zu ziehen.
Für jemanden wie Renate war es ein wahrer Liebesbeweis derartig widerwärtige Dinge zu tun. Das, was sich nämlich im Laufe der Zeit in ihrem Abfluss sammelte, waren nicht nur Haarbüschel, es waren Haarbüschel, umgeben von einer schleimigen Schicht aus Zahnpastaschaum und Seifenresten. Diese glitschigen braungrauen Klumpen bekam Henning nie zu Gesicht, er sorgte nur dafür, dass sie entstanden.
Mit angeekeltem Gesichtsausdruck und spitzen Fingern zog Renate den Klumpen hervor und warf ihn mit einem lauten Platsch in die Toilette. Das war der einzige Aspekt dieser Arbeit, der ihr gefiel. Das Geräusch, wenn der Schleimklumpen in die kleine Wasserlache in der Toilette fiel.
Seufzend bückte sich Renate zum Abfluss der Badewanne. Und wieder zog sie Hände voll von Hennings Haar hervor. Sie liebte Hennings lange Haare, doch sie hasste seinen Haarausfall. In solchen Augenblicken fragte sie sich, ob ihm eine adrette Kurzhaarfrisur nicht vielleicht auch ganz gut stehen würde. Renate warf den zweiten Schleimklumpen in die Toilette und spülte, dann holte sie den Handstaubsauger, der zu einer ihrer engsten Freunde geworden war, und saugte die einzelnen Haare und Staubflusen vom Boden, wobei sie sich immer wieder fragte, ob Staubflusen nicht vielleicht doch eine Art von Seele haben könnten, und ob es dann nicht grausam von ihr wäre, sie einzusaugen. Solche Gedanken behielt Renate für sich, weil sie befürchtete, dass selbst Henning nicht wüsste, was er dazu sagen sollte.
Kapitel 93
Verärgert stand Renate in der Küche und betrachtete die Überreste von Hennings kreativen Kochkünsten, mit denen er sie am Abend zuvor bedacht hatte. Ihr Blick fiel auf den Herd. Es war genau erkennbar, wo der Topf und die Pfanne gestanden hatten. Ihre runden Umrisse zeichneten sich in einem Meer aus Krümeln und Gewürzen ab. Niemand außer Henning würzte so leidenschaftlich. Er machte das aus dem Handgelenk.
Renate kratzte mit dem Fingernagel über die Arbeitsfläche. Getrocknete Eiweißreste, Tomatensaucenflecken und noch mehr Gewürze. Mit der harten Seite des Schwamms schrubbte Renate über die eingebrannten Flecken, die sich nur widerwillig lösten.
Vier Stunden später funkelte die Wohnung aus jeder Ecke. Genussvoll glitt Renate barfuß über den glatten und krümelfreien Holzfußboden. Sie
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