Rendezvous in Kentucky
jemand gefangengenommen. Ich weiß es nicht. Ich dachte, er wäre im Bett, als ich gestern abend nach ihm gesehen hab’. Aber er hatte die Decken so aufgeschichtet, daß es aussah, als läge dort jemand. Ich habe es erst heute morgen bemerkt. Er war die ganze Nacht nicht daheim! Jemand hat meinen einzigen Sohn gefangengenommen!« jammerte sie und fing an zu weinen.
Linnet versuchte, ihre eigene Angst zu unterdrücken. »Bleib du hier. Ich werde Devon holen. Er wird wissen, was zu tun ist.«
»Mac ist nicht da. Er ist schon vor Sonnenaufgang Jagen gegangen. Ich war zuerst bei ihm. Und weil du doch sein Mädchen bist und so, bin ich dann zu dir gekommen.«
Zum ersten Mal hatte Linnet es jetzt mit eigenen Ohren gehört: Du bist sein Mädchen. Es klang banal, fand sie. »Wir werden Jessie suchen.« Linnet legte sich ihr Schultertuch um. »Geh du zuerst zu den Starks und dann hol Agnes. Agnes weiß immer einen Rat. Wo ist eigentlich Floyd?« Jessies Vater war Linnet gerade erst eingefallen.
»Er ist zusammen mit Mac auf der Jagd.«
Linnet griff voller Panik nach Wilmas Arm. »Besteht die Möglichkeit, daß Jessie sich seinem Vater angeschlossen hat?«
»Nein. Jessie und Floyd hatten einen schrecklichen Krach. Floyd befahl Jessie hierzubleiben und Jonathan auf der Farm zu helfen. Aber du kennst doch Jessie!«
Linnet sah die Frau nur an. Ja, sie kannte Jessie. Er hatte mit seinem Vater auf die Jagd gehen wollen, und als es ihm nicht erlaubt worden war, hatte er die Konsequenzen gezogen und war weggelaufen, nachdem er sein Bett so hergerichtet hatte, daß niemand sein Ausreißen bemerken konnte. »Wilma, geh jetzt zu Agnes! Wir werden ihn suchen.« Linnets Angst wuchs. Sie erinnerte sich an die Kinder, die von Crazy Bear gefangengenommen worden waren. Sie dachte an den Anblick ihrer ermordeten Mutter, deren Blut die Erde rot färbte. Panik ergriff von Linnet Besitz. Jessie war trotz seiner Angeberei noch ein kleiner Junge, und er befand sich in großer Gefahr.
Sie schob Wilma ins Freie. »Geh zu Agnes. Sie wird dir helfen, einen Suchtrupp zusammenzustellen«, wiederholte sie noch einmal.
»Wo gehst du hin?«
»Ich werde Jessie suchen. Ich glaube, ich weiß, wo er sich aufhalten könnte.« Linnet trat in die neblige Novemberluft und ging mit klopfendem Herzen in Richtung Wald.
5
Die Sonne ging unter, als Devon auf die Lichtung ritt. Er lächelte beim Anblick von Linnets Hütte und fragte sich, was sie zum Abendessen gekocht hatte. Er zügelte sein Pferd und dachte darüber nach, wie sehr er die Abende mit ihr allein genoß. Ihr fröhliches Lachen und ihr hübscher kleiner Mund, der... Er rief sich energisch zur Ordnung, lächelte und betrat den Laden.
»Schon zurück, Junge?« fragte Gaylon.
»Ja. Floyd und ich haben einen Hirsch erlegt. Er liegt draußen.«
»Hast du schon gehört, was heute Aufregendes passiert ist?«
»Was denn?«
»Der kleine Jessie Tucker ist ausgerissen.«
Devon starrte den alten Mann an. »Ausgerissen? Hat man ihn schon gefunden?«
»Hmm, hat man. Er hat im Holzschuppen geschlafen. Ich glaub’, Floyd wird ein ernstes Wort mit ihm reden.«
»Das hat er verdient«, kommentierte Devon. Jessie mußte sich der Gefahren bewußt werden, die in den Wäldern lauerten.
»Sicher hat er das. Schon allein weil ganz Sweetbriar nach ihm gesucht hat. Den ganzen Morgen über konnte niemand seine Arbeit erledigen.«
»Ich bin froh, daß ihm nichts passiert ist. Jetzt geh’ raus und zieh den Hirsch ab, ja? Ich komme um vor Hunger.«
»Willst wohl zu deiner Herzallerliebsten, ja?« Gaylon grinste. »Warum ziehst du nicht gleich bei ihr ein und verbringst deine ganze freie Zeit bei ihr? Sie kann bestimmt noch was anderes als Lesen und Kochen.«
»Linnet ist meine Angelegenheit, und ich brauche weder deinen Rat noch den von irgend jemandem sonst!« Er funkelte Gaylon streng an, doch plötzlich überzog ein breites Lächeln sein Gesicht. »Ich lasse mir nur Zeit. Das ist so, als ob man ein Geschenk auspackt.«
»Das ist ja alles ganz gut und schön«, meinte Gaylon ernst, »aber wenn ich du wäre...«
»Du bist es aber nicht!« unterbrach ihn Devon barsch. »Und du wirst es auch nie sein! Jetzt lauf schon und häute den Hirsch ab! Überlaß mir das Werben um Linnet.«
»Ich will dir nur noch was sagen — das Mädchen ist zu hübsch, um lange ohne Mann zu bleiben. Irgendwann wird sie sich verlieben. Und dann? Ich habe gehört, daß Worth Jamieson hinter ihr her ist.«
In Devons Augen begann ein
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