Rendezvous mit Übermorgen
»Was meinen Sie? Schlafen wir noch ein bisschen, ehe es hell wird?«
Aber beide konnten sie dann doch nicht schlafen. Sie lagen nebeneinander auf ihren Matten auf der offenen Plaza und hingen jeder seinen Gedanken nach. Nicole hörte, wie Richard sich bewegte. »Sind Sie auch wach?«, flüsterte sie.
»Ja. Und ich hab sogar Shakespeare-Figuren gezählt. Erfolglos. Ich war bei über hundert.«
Nicole stemmte sich auf dem Ellbogen hoch und wandte ihm das Gesicht zu. »Sagen Sie mir, Richard, woher kommt diese Fasziniertheit von Shakespeare bei Ihnen? Ich weiß, Sie sind in Stratford aufgewachsen, aber es fällt mir einfach schwer, mir vorzustellen, wie ein Techniker wie Sie - verliebt in Computer und Rechenvorgänge und technische Spielereien - sich dermaßen für einen Theaterdichter begeistern kann.«
Nach ein paar Sekunden antwortete Richard: »Mein Therapeut erklärte mir, dass es sich um ein >eskapistisches Zwangs-verhalten< handelt. Da ich offenbar die >reale< Welt nebst den Leuten in ihr nicht mochte, sagte er, erfand ich mir eben eine andere. Nur dass ich sie natürlich nicht aus dem Nichts geschaffen habe. Ich erweiterte nur für mich ein wunderbares Universum, das bereits vorhanden war, gebaut von einem Genie.«
Nach einer Weile sprach er weiter. »Shakespeare war mein Gott. Als ich neun war oder zehn, ging ich immer in diesen Park am Avon - bei den Theatern mit den Statuen von Hamlet, Falstaff, Lady Macbeth und Prinz Heinrich, Hai - und erfand neue Geschichten für meine Lieblingsfiguren. Auf diese Weise schob ich es bis zum letztmöglichen Augenblick auf, zu Hause erscheinen zu müssen. Ich fürchtete mich davor, in der Nähe meines Vaters zu sein ... man wusste nie, was er tun mochte ...«
»Aber das wollen Sie bestimmt nicht hören«, unterbrach Richard sich hastig. »Jeder hat schmerzliche Kindheitserinnerungen. Wir sollten lieber von was anderem reden.«
»Wir sollten von allem sprechen, was wir fühlen«, antwortete Nicole zu ihrer eigenen Überraschung. »Und ich tue das kaum jemals«, setzte sie leise hinzu.
Richard bewegte sich, blickte anscheinend zu ihr herüber. Vorsichtig streckte er ihr die Hand entgegen, und Nicole umschloss zart seine Finger mit den ihren. »Mein Vater arbeitete bei der Eisenbahn, der British Rail«, sprach Richard weiter. »Er war ein sehr cleverer Bursche, aber im sozialen Umgang ein Klotz, und es fiel ihm schwer, nach der Universität in Sussex eine passende Stellung zu finden. Es waren immer noch schwere Zeiten. Die Wirtschaft fing gerade an, sich von dem Großen Chaos wieder aufzurappeln. Als meine Mutter ihm eröffnete, dass sie schwanger war, verkraftete er die ganze Verantwortung einfach nicht. Er suchte nach einer festen, gesicherten Stellung. In Prüfungen hatte er schon immer gut abgeschnitten, und die Regierung hatte sämtliche landesweiten Transport-und Verkehrs-Monopole - also auch die Eisenbahnen - gezwungen, Personal nur auf der Basis objektiver Prüfungsergebnisse einzustellen. Und so wurde mein Vater Betriebsleiter in Stratford.
Er hasste seine Arbeit. Der Job war langweilig und absolut monoton, völlig ungeeignet für einen Mann mit einem erstklassigen Examen. Meine Mutter erzählte mir, dass mein Vater, als ich noch ganz klein war, sich um andere Positionen bemüht hat, aber irgendwie dabei immer bei der persönlichen Vorstellung versagte. Später, als ich schon älter war, hat er es dann erst gar nicht mehr versucht. Er hockte zu Hause herum und beklagte sich. Und soff. Und wenn er betrunken war, machte er allen ringsum das Leben zur Hölle.«
Es trat ein langes Schweigen ein. Richard schien tief in den Kampf mit den Dämonen seiner Kindheit verstrickt zu sein. Schließlich drückte Nicole seine Finger. »Es tut mir leid«, sagte sie.
»Ja, leid getan hab ich mir damals selber auch«, antwortete Richard mit brüchiger Stimme. »Ich war aber bloß ein kleiner Junge und voll von einem ungeheuren Gefühl des Staunens über das Leben und voller Lebenslust. Ich kam in glühender Begeisterung über etwas, das ich gelernt hatte oder was in der Schule gewesen war, nach Hause und traf dort auf meinen Vater, der mich nur anknurrte ... Einmal, ich war knapp acht, kam ich früh am Nachmittag heim, und wir gerieten über etwas in Streit. Er hatte seinen freien Tag, und wie üblich hatte er getrunken. Meine Mutter war einkaufen. Ich weiß heute nicht mehr, worum es ging, aber ich erinnere mich, dass ich ihm nachwies, wie er in irgendeiner lächerlichen
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