Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
„Übernimm du das”, bat die Konrektorin sie.
„In Ordnung, ich werde mich auch darum kümmern.” Insgeheim freute sie sich, dass sie nun einen Grund für eine ausführliche Unterhaltung hatte. Ulrike Stellmann hielt Distanz zu den meisten Kolleginnen. Nach der letzten Stunde verschwand sie immer sehr schnell, so dass es kaum Möglichkeiten zu einem Gespräch in entspannter Atmosphäre gab. Deshalb hatte Helga sich nur selten mit ihr unterhalten und dann ausschließlich über schulische Belange.
„Gut, und jetzt werde ich unserem Rektor den Rücken stärken. Besuch von der Verwaltung hat sich angesagt.”
„Mein Beileid! Ich brauche dringend einen Kaffee, sonst halte ich nicht durch. In der nächsten Pause habe ich Aufsicht und keine Zeit für ’nen Koffeincocktail.” Schon im Gehen begriffen, drehte sie sich noch einmal um. „Meinst du, du kriegst jetzt endlich auch deine Steckdose repariert?”
„Na hoffentlich! Sonst drohe ich damit, solange im Schimmelkeller zu bleiben, bis unsere Schnecke sich aufrafft.”
Zwei Stunden später eilte Helga auf den Schulhof, mit ihren Gedanken bei Ellis seltsamen Fund. Doch die Kinder ließen sie nicht lange in Ruhe, hier mussten Streitereien geschlichtet, dort musste getröstet oder gedroht werden. Außerdem galt es, einige grobe Verletzungen der Schulordnung zu ahnden: Zwei Schüler der 4c hatten den Schulhof verlassen, obwohl es strengstens verboten war, und ein Drittklässler spielte mit einem langen, scharfen Messer herum. Seelenruhig erklärte er ihr, dass das ein Butterflymesser sei und er es nach der Schule gern zurück hätte, weil es seinem großen Bruder gehöre. Helga wunderte sich längst nicht mehr darüber, dass manche Grundschüler sich mit Waffen besser auskannten als sie.
Plötzlich lief ein kleiner Steppke auf sie zu, den sie nicht kannte. Pfiffig schaute er sie von unten herauf an.
„Soll ich dir was von Benni erzählen?”
Normalerweise wäre sie mit einem Kopfschütteln weitergegangen, vor allem als sie sah, dass sich in einer Ecke des Hofes ein Kreis gebildet hatte, der lautstark zwei sich prügelnde Kinder anfeuerte. Aber seit einer Woche war alles anders. Seit einer Woche gab es für sie Wichtigeres als prügelnde Schüler. Schnell schickte sie noch zwei Mädchen, die an ihrer Jacke zerrten und sich beklagten, weil die Großen ihnen immer den Ball wegnahmen, mit einem beruhigenden „Ich komme gleich” des Weges, bevor sie sich dem Jungen vor ihr zuwandte.
„Was weißt du denn über Benni?”
Der Kleine blickte verschwörerisch um sich, dann flüsterte er: „Du darfst es aber niemandem weitersagen.”
„Bestimmt nicht.”
„Versprichst du’s?”
Helga versprach es. Gewöhnlich hielt sie sich an ihre Zusagen, besonders Kindern gegenüber. Doch in diesem besonderen Fall akzeptierte sie die Notwendigkeit einer Lüge.
„Also, Benni gehörte zu unserer Bande.” Mit wichtiger Miene nickte er mehrmals und erklärte ihr: „Wir sind richtige Detektive. Hier, willst du meinen Ausweis sehen?” Dabei zog er ein zerknittertes Stück Papier hervor. Es handelte sich um einen Vordruck aus einem der vielen Kinder-Comics. Der Platz für das Foto war mit schwarzem Filzstift ausgemalt, Name und Anschrift in fehlerhaften Blockbuchstaben gekrakelt.
„Sehr interessant.” Sie musste aufpassen, den Jungen nicht von oben herab zu behandeln, sondern ihn zum Weiterreden ermuntern.
„Was habt ihr denn so gemacht, wenn ihr Detektiv …”,
sie stockte. „Spieltet” hatte sie eigentlich sagen wollen. Aber so ernsthaft, wie der Kleine da vor ihr stand, hätte ihn das beleidigt. „… wenn ihr als Detektive unterwegs wart?”, vollendete sie den Satz.
„Och, wir haben Leute verfolgt. Das ist ganz schön schwierig, dass die einen nicht sehen.”
„Und hat euch denn mal jemand bemerkt?”
Er überlegte, bohrte mit dem Finger in der Nase und meinte schließlich: „Nö, meistens nicht. Nur einmal, da …”
„Was?”
„Ach, nichts!”
Helga versuchte es andersherum: „Kanntet ihr die Leute, die ihr beobachtet habt, oder habt ihr euch einfach irgendjemanden ausgesucht?”
Keine Antwort. Jetzt hatte er die Prügelei bemerkt, und diese schien ihn weit mehr zu interessieren als das Gespräch. Er machte Anstalten, sich in jene Richtung abzusetzen, was Helga jedoch nicht zulassen wollte.
„Habt ihr mich auch mal verfolgt?”
Er lachte. „Klar, haben wir, und du hast nichts gemerkt.”
„Und Frau Steinhofer? Die auch?”
„Klar,
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