Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
„Das könnt ihr doch nicht tun! Falls wieder etwas passieren sollte, werdet ihr euch euer Leben lang Vorwürfe machen, nur weil ihr jetzt aus Bequemlichkeit kneift.”
„Nun sei mal vernünftig! Hast du denn etwas gesehen? Irgendetwas, das hilft, den Mörder zu finden?”, fragte Klaus heftig und versuchte gar nicht erst, seine Abneigung gegen Ilses Projekt zu unterdrücken.
„Wir können gar nichts tun, selbst wenn noch einmal etwas geschehen sollte.”
„Wir wissen nicht, wer die Morde begeht, wir wissen nicht, warum. Also worauf, zum Teufel, sollen wir achten?”
Sie näherten sich rasend schnell einem offenen Streit, den Helga unbedingt vermeiden wollte. Lieber würde sie einlenken.
„Wartet!” Ilse griff in die Sporttasche und holte ihre Tarot-Karten heraus, ohne die sie nirgends hinging. Sie gehörten ebenso zu ihrem Image als weise Hexe wie die Kräutertees, die sie regelmäßig empfahl, oder die selbst gemixten Cremes gegen Abschürfungen, Verstauchungen oder Zerrungen. Einige verdrehten ihre Augen und stöhnten demonstrativ auf. Tees und Cremes konnte jeder akzeptieren, aber warum musste Ilse ihr Gehabe so übertreiben? Vor jeder Entscheidung befragte sie die Karten. Und dann ließ sie kein ›Wenn‹ und ›Aber‹ mehr gelten. Bisher hatten sich alle über ihre Marotte mehr oder weniger lautstark amüsiert. Deshalb rief Udo auch feixend: „Lass mich mal dran!” und versuchte nach dem in ein weißes Seidentuch eingeschlagenen Päckchen zu greifen. Ilse reagierte blitzschnell, riss mit einer Hand die Karten an sich und schlug mit der anderen auf seine grapschende Hand ein. Böse blickte sie in die Runde. „Ich finde es ziemlich primitiv, sich über eine Sache lustig zu machen, von der man nichts versteht.”
Udo lachte. „Also wirklich, du willst uns doch wohl nicht erzählen, dass du tatsächlich an die Karten glaubst? Wahrsagen ist eine nette Form der Unterhaltung, gut geeignet, um langweilige Partys in Schwung zu bringen, aber mehr doch nicht!”
Ilse lief rot an und hatte schon den Mund zu einer zornigen Erwiderung geöffnet, als Hans sich besänftigend einmischte. Auch er wollte ein Zerwürfnis unbedingt vermeiden. „Nun hör mal Ilse, selbst du musst zugeben, dass Magie zwar eine faszinierende Methode ist, um die Probleme des Lebens zu begreifen, dem modernen Menschen aber jedes Verständnis für diese Art von Metaphysik abgeht.”
„Verstehe ich nicht. Was haben die Morde mit Magie und den Problemen des Lebens zu tun?”, fragte Tina, was Hans Gelegenheit bot, sein breitgefächertes Wissen darzulegen.
„Aber das ist doch ganz einfach. Das Leben ist nun mal ungerecht. Warum der eine als Millionär geboren wird, der andere arm bleibt, einer mit hundert Jahren, einer mit zwanzig stirbt, warum es Krankheit, Elend und Leid für die einen und Reichtum, Macht und Ansehen für die anderen gibt, ist nicht erklärbar und für den Menschen unerträglich. Deshalb schuf er schon vor mehr als zweitausend Jahren diverse Systeme, um die kosmische Logik zu durchschauen. Na ja, und da haben Magie und Astrologie eben genauso ihre Berechtigung wie Philosophie oder Religion. Ich sehe keinen Grund, das eine zu akzeptieren und das andere zu verdammen. Also lasst die Hexe ihre Karten legen.” Hans schob seinen Stuhl zurück. Er glaubte bereits zu wissen, wie die Deutung ausfallen würde, gleichgültig welche Karten Ilse zog.
Diese schlug langsam einen Zipfel des Tuches zurück, dann den nächsten, bis schließlich der Kartenstapel offen vor ihr lag. Ganz und gar auf ihr Tun konzentriert, begann sie, die Karten zu mischen, um dann ruhig und bedächtig die Ziehung vorzunehmen. Niemand sprach, alle beobachteten mehr amüsiert als gespannt, wie Ilse eine Karte nach der anderen auslegte.
Endlich richtete sie sich auf. „Es sieht böse aus, ganz böse. Hier, seht ihr den Turm? Eine Karte, an der nichts positiv ist, die schlimmste im ganzen Spiel, und dann hier, der Tod, auch eine böse Karte. Es ist ganz klar, die Sache ist noch lange nicht ausgestanden. Wer aufgeben will, sollte sich das gut überlegen!” Sie zögerte einen Moment, dann fuhr sie fort: „Auch wenn ihr den Karten nicht vertraut, solltet ihr daran denken, dass ein Mensch, der zweimal getötet hat, es auch ein drittes Mal tut.” Ernst blickte sie jedem einzelnen in die Augen. „Gewissensbisse können arg schmerzen!”
Betroffen schaute sich die Runde an. Falls es tatsächlich noch einen Mord geben sollte … Ganz unrecht hatte Ilse
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