Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
sprechen. Du wirst sehen, die meisten sind nicht so engstirnig wie du vielleicht glaubst.” Helga fühlte sich gar nicht so sicher, wie sie tat. Es gab viele Ältere und einige äußerst Konservative im Kollegium. Sie würde harte Überzeugungsarbeit leisten müssen, und dazu benötigte sie Zeit.
„Warte bis zur nächsten Konferenz. Bis dahin werde ich mit den meisten gesprochen haben. Elli ist so sehr Feministin, dass sie auf deiner Seite sein wird, und die anderen werden dich unterstützen, wenn sie hören, was Müller von dir verlangt. Und wenn das Kollegium geschlossen hinter dir steht, wird Raesfeld nichts unternehmen, gleichgültig was die Eltern sagen. Ich bin sicher, dass Lesbischsein kein Kündigungsgrund ist, doch nicht heutzutage.” Helga lachte. „Wenn erst einmal alle wissen, dass Müller auf diese Weise das Zeugnis seines Sohnes manipulieren wollte, wird die Empörung über ihn größer sein als über dich.”
Angelas Lächeln geriet etwas schief. Helga hatte gut reden. Schließlich ging sie das Ganze ja auch nichts an. Sie, Angela, würde den Kopf hinhalten müssen. Doch vermutlich hatte Helga Recht damit, den Stier bei den Hörnern zu packen.
„Und ich habe auf die Anonymität der Großstadt gehofft.”
Kopfschüttelnd trank Angela einen Schluck Kaffee, um die Tasse sofort angeekelt wieder abzustellen. „Erst treffe ich Benjamin in unserem Haus, der dort nichts zu suchen hatte, dann schnüffelt mir ein Vater hinterher. Wir sollten wohl besser in eine andere Stadt ziehen.”
Benjamin! Den hatte Helga doch für einen Moment tatsächlich vergessen. Hatte sie Kersting erzählt, dass Benni sich in fremden Häusern aufhielt und Leute verfolgte? Sie wusste es nicht mehr, aber das war ein guter Grund, ihn anzurufen. Sie würde ihn gern wieder sehen, er war ein Mann, der zuhören konnte, der nicht immer sich selbst in den Mittelpunkt rückte. Bei ihm fühlte sie sich geborgen, wie es bei Hans-Werner nie der Fall gewesen war. Ihre Gedanken irrten ab, und sie musste sich zusammenreißen, um Angela zuzuhören.
„Danke für das Gespräch und dein Hilfsangebot. Du ahnst nicht, wie elend ich mich in den letzten Tagen gefühlt habe. Jetzt bin ich froh über meinen Entschluss, denn egal wie die Geschichte ausgeht, alles ist besser, als vor diesem Ekel Angst zu haben oder einem Mann dankbar sein zu müssen für nichts. Ich glaube, ich habe dich die ganze Zeit falsch eingeschätzt.” Angela zögerte einen Moment, fuhr dann aber doch fort: „Ich habe dich immer für oberflächlich gehalten, nur an Mode und Urlaub interessiert. Tut mir Leid. Vielleicht sollten wir öfter miteinander reden.”
Hoch aufgerichtet verließ Angela das Café, während Helga nachdenklich sitzen blieb und versuchte, das Gehörte in Einklang mit ihrem bisherigen Wissen zu bringen. Müller war also ein Erpresser! Und Benni musste etwas gewusst haben. Das würde nicht nur Angelas Foto zwischen den Spielen und dem Geld erklären, sondern auch, weshalb der Baustoffhändler den Jungen an seinen Computer ließ. Reichte das als Mordmotiv aus? Und war Müller kaltblütig genug, zwei Kinder zu töten und die Tat anschließend als die eines geistig Gestörten hinzustellen? Helga schwirrte der Kopf. Sie beschloss, Schüler und Eltern noch viel intensiver auszufragen. Ab heute war Schluss mit jeglicher Diskretion!
Doch nun hatte sie erst einmal von allem genug. Unterricht, Konferenz und die Gespräche mit Ulrike und Angela hatten sie geschafft. Sie sehnte sich nur noch nach einer Badewanne mit viel Schaum, Pizza mit Unmengen von Salami und einem eiskalten Bier. Solche Gelüste überfielen sie nur dann, wenn sie absolut groggy war. Heute Abend würde sie ihnen nachgeben. Zum Teufel mit Ulrikes und Angelas Problemen, mit Alis Erwartungen, und zum Teufel auch mit der Unterrichtsvorbereitung für morgen.
18
Irgendwie vermochte Kersting sich heute Morgen nur mit Mühe auf die Arbeit zu konzentrieren. Das lag nicht alleinan Masowskis blöden Bemerkungen über ›seine Lehrerin‹, die mehr als einwinzigen ein Fünkchen Wahrheit enthielten. Er hatte sich in eine Frau verliebt, die eine Rolle in einem laufenden Fall spielte, etwas, das niemals hätte passieren dürfen. Immerhin kannte sie beide Kinder, war eine Zeugin und möglicherweise verdächtig. Glücklicherweise behielt bisher der Verstand die Oberhand, auch wenn die Gefühle ihn häufiger zu beeinträchtigen suchten. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er unter der Leere gelitten
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