Renner & Kersting 02 - Mordswut
aus?«
„Natürlich. Ich bin auch nur ein Mensch mit Gefühlen. Aber ich konnte nichts ändern. Das wusste ich. Schon bei seiner ersten Heirat.« Wieder zuckte sie mit den Schultern. „War es das? Dann kann ich ja wohl gehen.«
Ohne ein weiteres Wort nahm sie ihren Mantel und überließ das Begleichen der Rechnung Helga.
Als diese endlich heim kam, fühlte sie sich erschöpft wie nach sechs Stunden Unterricht. Sie hatte gar keine Lust, für morgen noch etwas vorzubereiten. Sprach-und Mathebuch gaben noch genügend Aufgaben her für ihre Klasse. Doch was sie zwei Stunden in Andreas Klasse tun sollte, wusste sie nicht. Also ließ sie heißes Wasser über einen Teebeutel laufen und setzte sich mit der Teetasse und den Büchern des zweiten Schuljahres an den Schreibtisch. Zum Arbeiten kam sie indes nicht. Kaum hatte sie das Mathebuch aufgeschlagen, klingelte das Telefon. Frau Zenker. Die konnte sie nicht gut abwimmeln. Also lehnte sie sich im Sessel zurück und machte sich auf ein längeres Gespräch gefasst.
„Ich habe schon den ganzen Nachmittag versucht, Sie zu erreichen. Nele kommt auch morgen noch nicht wieder. Was da gestern passiert ist, hat alles noch viel schlimmer gemacht. Die Frechheit dieser Leute ist unglaublich. Stellen Sie sich vor: Der Junge treibt sich dauernd vor unserem Haus herum. Gestern den ganzen Nachmittag und heute Morgen auch wieder. Nele traut sich nicht raus. Sie hat sogar Angst, aus dem Fenster zu schauen. Samstag war ich noch einmal bei der Polizei, aber die sagen, sie können da nichts machen. Also bin ich zu den Eltern. Und die behaupten einfach, ihr Sohn hätte mit der ganzen Sache nichts zu tun. Das hätte sich Nele alles nur ausgedacht, und im Übrigen sollte ich mich nicht so anstellen. Gestern Morgen, da haben sie sich in der Kirche vor uns gesetzt, so dass Nele die ganze Zeit den Bengel ansehen musste. Und der dreht sich frech grinsend um und seine Eltern auch. Wir sind früher gegangen. Nele ist fix und fertig mit den Nerven und ich ebenfalls. Was soll ich bloß tun? Die Eltern ... wie können die behaupten, dass mein Kind lügt? So etwas denkt sich doch kein Kind aus. Und ... und dann haben sie mich als asozial beschimpft, nur weil ich nicht verheiratet bin und nicht so viel Geld habe wie die. Dabei verdiene ich mein Geld ehrlich und liege niemandem auf der Tasche. Und dann hat der Kerl noch gesagt, dass Nele sowieso verwahrlost sei, und ... und an der könne man eh nichts mehr kaputt machen.« Frau Zenker begann zu weinen.
Helga fühlte sich hilflos wie selten. Diese Eltern waren unglaublich. Wie konnten sie die Taten ihres Sohnes einfach negieren? Das hatte nichts mit Elternliebe oder Fürsorge zu tun. Ganz im Gegenteil.
„Wer sein Kind liebt, der züchtigt es!« Wie oft hatte sie diesen Spruch als Kind gehört – und verflucht. Wenn er stimmte, hatten ihre Eltern sie sehr geliebt. Heute betrachtete sie Erziehung von der anderen Seite und empfand das Zitat längst nicht mehr als so falsch. Wäre der Junge nur einmal zur rechten Zeit gezüchtigt worden, wäre das alles vielleicht nicht passiert, dachte sie traurig. Jetzt hatte Lars sich zum Vergewaltiger entwickelt. Hoffentlich sah das Gericht es auch so. Helga glaubte nicht, dass Verständnis in diesem Fall helfen würde. Er musste drastisch belehrt werden. Und nicht nur er, auch den Eltern musste deutlich werden, dass ihre Erziehung versagt hatte. Im Gegensatz zu Frau Zenker zählten sie zur sogenannten besseren Gesellschaft. Es gehörte nicht nur gesundes Rechtsempfinden, sondern auch Courage dazu, den Sohn eines Kollegen zu verurteilen.
„Hören Sie, ich weiß zu wenig über die rechtliche Seite. Haben Sie beim Kinderschutzbund und beim weißen Ring angerufen?«
„Nein, noch nicht. Ich weiß nicht, ob ich das tun soll. Nachher sagen die auch, Nele sei selber schuld. Ich will meine Ruhe haben. Ich kann nicht mehr. Dieser Mann ... er, er hat mich angebrüllt und Wörter benutzt, die ...«
„Ist er handgreiflich geworden? Hat er Sie angefasst?«
„Nicht eigentlich. Oder doch, ja, er hat mich geschubst, aus der Tür heraus. Ich bin gestolpert und gefallen. Wenn ich daran denke, werde ich so wütend, dass ich ihn umbringen könnte. Ja, vielleicht werde ich das auch.«
Helga hörte die Befriedigung aus den Worten, die Erleichterung, etwas tun zu können und nicht hilflos abwarten zu müssen. Sie kannte das Gefühl und bekam Angst. „Machen Sie sich nicht unglücklich. Eine Auseinandersetzung mit der Familie ist
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