Repuestos: Kolonie der Verschleppten (German Edition)
Schaden nimmt. Wie wir alle ist er den Besitzern ein viel zu kostbares Gut ...“
„Gute Nacht, Edmund.“
Edmund lag lange wach und ließ Angelas Bericht illustriert Revue passieren. Die lebende Mauer hatte offenbar tatsächlich ihren Zweck erfüllt, der Kamera musste das Manöver entgangen sein – wären sonst nicht alle aufgeflogen?
Handelte es sich bei dem Schacht um Laura Schneiders Schleuse mit der angeblichen Verbindung zu einem Tunnel nach oben in die Freiheit? Lauras Worte von heute mittag fielen ihm ein: „Freitagnacht nahmen sie einen hopp“. Einen . Da hatte er nicht ahnen können, dass das Gustav gewesen war. Er brannte jetzt geradezu darauf, mehr von Laura Schneider zu erfahren, was der Junge vor langer Zeit erzählt hatte. Sie musste morgen jedes Detail aus ihrem Gedächtnis hervorholen. Wenn es diesen Tunnel wirklich gab, müsste man herausfinden, wie er unter Umgehung der Schleuse oder des offensichtlich verwanzten Schachtes zu erreichen war. Und wie er unterhalb der Urbanisation verlief. Er glitt in einen Halbschlaf hinüber, darin führte der Tunnel praktischerweise direkt unter seiner Zelle hindurch. Er sank in ihn hinab und der Junge aus Schneiders Erzählung schwebte auf Rollschuhen an ihm vorbei, nein, das war Egon aus seiner Elf. Und dann war die ganze Klasse da, die sich erhob, als das Pausenzeichen ertönte. Er fuhr hoch und saß aufrecht im Bett – das Wecken schrillte durch Repuestos.
Edmund kam verspätet zur Verabredung mit Laura Schneider. Sie winkte ihm ungeduldig zu und kam, kaum dass er sich hingesetzt hatte, gleich zur Sache.
„Also, wie gesagt, von diesem Dachsbau hörte ich oben schon Ende der Achtzigerjahre. Damals lachte ich darüber und glaubte dem Jungen kein Wort. Er jobbte bei mir im Karmeliterkloster, Student der Archäologie.“
Sie spielte mit der Serviette, als wüsste sie nicht weiter.
„… im Karmeliterkloster?“
„Ja. Darin ist das Frankfurter Stadtarchiv untergebracht. Ich arbeitete da als Bibliothekarin. Der Junge hatte sich nicht von ungefähr um einen Semester-Job ausgerechnet hier beworben. Er hoffte, Pläne zu einer unterirdischen Festung zu finden, die angeblich während des Zweiten Weltkrieges als geheimer Unterschlupf für die Regierung und für die Eliteeinheit Regiment Großdeutschland im Fall eines feindlichen Einmarsches errichtet worden war, um von hier aus einen eventuell eingedrungenen Gegner zu vernichten und den Endsieg zu erkämpfen. Kurz vor Beendigung des Baus seien die Alliierten einmarschiert.“
Edmund blies durch die Lippen. „Und weiter?“
„Reiche Russen hätten Wind davon bekommen und in Ostberlin während des Kalten Krieges vom Keller einer stillgelegten Fabrik aus einen Tunnel bis hierher gegraben, um sich im Falle eines Atomkrieges in dem geräumigen Hohlraum unter Frankfurt in Sicherheit zu bringen.“
Edmund musste an sich halten, um nicht laut herauszulachen. Starker Tobak. Der Kellner brachte die Vorspeisen und das Mineralwasser.
„Selbst wenn das zuträfe und wir den Weg zu diesem Tunnel fänden“, warf er mit leichter Ironie ein, „ihn zu durchwandern, von hier bis nach Berlin, das wäre ein ziemlich langer Fußmarsch.“
„Mein Großvater ist fünfundvierzig von der Ukraine bis Leipzig gelaufen, immerzu auf der Flucht. – Ich meine, zwei Männer von guter Konstitution, mit ausreichend Trinkwasser und Brot versehen, könnten das schaffen.“
„Rollschuhe wären auch ganz gut.“
„Sie nehmen mich nicht ernst.“
„Doch, doch. Es ist nur so, wir können hier nicht einmal in der Nase bohren, ohne dass der große Bruder das beobachtet. Angenommen, es gäbe diesen Tunnel tatsächlich, wie könnte man sich unbemerkt Zugang zu ihm verschaffen?“
„Das gilt es herauszufinden.“
„Bestimmt ist der Tunnel mit Alarmanlagen versehen. Daran ist wohl der Fluchtversuch am Freitag gescheitert. Der Wagemutige, der ihn unternommen hatte – es ist übrigens ein Schulfreund von mir –, war allerdings nicht auf einen Marsch bis nach Berlin vorbereitet. Sein Gerüchtetunnel sollte nach Zeppelinheim führen. Jetzt bewohnt er einen Patentstuhl in der Apathie .“
„Das tut mir leid“, sagte Laura.
Sie beendeten schweigend und resigniert ihre Mahlzeit und verabschiedeten sich. Da war kein Funke Hoffnung. Edmund fragte sich, was er sich eigentlich von dem Treffen versprochen hatte. In der Taubengasse begegnete er der Nachbarin aus hunderteinundzwanzig. Sie überredete ihn zu einem Schachspiel. Sie
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