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Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)

Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)

Titel: Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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vom Boden aus über uns herfallen. Raven ist hinter Pippa, einen Messergriff zwischen den Zähnen, eine Pistole an der Hüfte. Ihr Gesicht ist angespannt und konzentriert.
    Alles erscheint in Schlaglichtern, blitzlichtartig: Wachen, die aus Wachhütten und Lagerhäusern auftauchen und auf die Mauer zurennen. Heulende Sirenen, Polizei. Sie haben schnell auf den Alarm reagiert.
    Und dahinter – mein Magen zieht sich zusammen – sehe ich die Landschaft aus Dächern und Straßen; den tristen grauen dahinfließenden Asphalt; Back Cove, die vor mir glitzert; Parks im Hintergrund; die weite Bucht jenseits des entfernten weißen Flecks, der den Laborkomplex darstellt: Portland. Mein Zuhause.
    Einen Moment fürchte ich ohnmächtig zu werden. Hier sind zu viele Leute – schwärmende und schwankende Körper, verzerrte und groteske Gesichter – und zu viel Lärm. Meine Kehle brennt vom Rauch. Ein Teil des Gerüsts hat Feuer gefangen, und noch immer hat es nicht mehr als ein Viertel unserer Gruppe über die Mauer geschafft. Ich kann meine Mutter nicht sehen; ich weiß nicht, wo sie abgeblieben ist.
    Dann ist Julian oben und er schlingt den Arm um mich und zieht mich von der Mauer.
    »Runter! Runter!«, ruft er und wir knallen hart auf das Gerüst, als eine Reihe Kugeln hinter uns in die Mauer einschlägt und feiner Staub und Steinsplitter auf uns niedergehen. Das Gerüst unter uns knarrt und schwankt. Am Boden haben sich Wachen versammelt, die an den Trägern rütteln und versuchen es umzukippen.
    Julian ruft etwas. Seine Worte verlieren sich, aber ich weiß, dass er mir sagt, wir müssen weiter – wir müssen hier runter. Neben mir hat Tack sich umgedreht, um Pippa über die Mauer zu helfen. Sie bewegt sich schwerfällig, von dem Rucksack auf ihrem Rücken verlangsamt. Ich stelle mir vor, wie die Bombe genau hier, genau jetzt hochgeht – das Blut und das Feuer, den süßlich riechenden Rauch und die abprallenden Steinsplitter –, aber dann hat Pippa es über die Mauer geschafft und richtet sich auf.
    Genau in diesem Moment zielt ein Wachmann vom Boden her mit dem Gewehr auf sie. Ich will schreien – ich will sie warnen –, aber ich bekomme keinen Ton heraus.
    »Runter, Pippa!« Raven wirft sich über die Mauer und stößt Pippa zur Seite, als der Wachmann den Abzug drückt.
    Tick. Ein winziger Knall; das Geräusch eines harmlosen Feuerwerkskörpers.
    Raven zuckt und erstarrt. Erst glaube ich, sie ist bloß überrascht: Sie öffnet den Mund, reißt die Augen auf.
    Doch dann taumelt sie rückwärts und ich weiß, dass sie tot ist. Sie fällt, fällt, fällt …
    »Nein!« Tack stürzt vor und erwischt sie im letzten Moment am T-Shirt, bevor sie zurück über die Mauer stürzt, er zieht sie auf seinen Schoß. Überall um ihn herum wimmelt es von Leuten, die wie Ratten über das Gerüst schwärmen, aber er sitzt einfach da, wiegt sich leicht hin und her und hält Ravens Gesicht in den Händen. Er streichelt ihre Stirn, streicht ihr die Haare aus dem Gesicht. Sie starrt blicklos zu ihm hoch, den Mund geöffnet und feucht, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, ihr schwarzer Zopf an seinem Schenkel aufgerollt. Seine Lippen bewegen sich – er spricht mit ihr.
    Und jetzt ertönt in mir ein Schrei, tonlos und ohrenbetäubend, wie ein schwarzes Loch, das sich tief durch mein Inneres bohrt. Ich kann mich nicht rühren, kann nichts weiter tun als sie anzustarren. So darf Raven nicht sterben – nicht hier, nicht so, nicht in einer belanglosen Sekunde, nicht ohne zu kämpfen.
    Tick . Da fällt mir ein, wie wir im Park immer Fangen gespielt haben. Tick. Du bist’s.
    Das hier ist alles ein Spiel. Wir spielen mit glänzendem Blechspielzeug und lauten Geräuschen. Wir spielen Räuber und Gendarm wie damals als Kinder.
    Tick . Grellweißer Schmerz zuckt durch mich hindurch, an mir vorbei. Instinktiv hebe ich die Hand ans Gesicht und taste nach einer Wunde; meine Finger berühren mein Ohr und spüren Blut. Eine Kugel muss mich gestreift haben.
    Stärker als der Schmerz weckt mich der Schreck auf, setzt meinen Körper in Bewegung. Es gab nicht genügend Gewehre für alle, aber ich habe ein Messer – alt und stumpf zwar, aber besser als nichts. Ich zerre es aus dem Lederbeutel an meiner Hüfte. Julian klettert das Gerüst hinunter, schwingt sich wie ein Affe von einer Eisenstange zur nächsten. Ein Wachmann versucht ihn am Bein zu fassen – Julian dreht sich um und tritt ihn fest ins Gesicht. Der Wachmann stolpert

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