Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft Was uns stark macht gegen Stress, Depressionen und Burnout (German Edition)
deshalb untersucht. Dabei fiel den beiden Wissenschaftlern vor allem eines auf: Wenn andere und nicht die Betroffenen selbst den Seelenzustand der Krisengeschüttelten einschätzen, dann ist weit weniger überzeugendes posttraumatisches Wachstum festzustellen.
Noch dazu scheint die Sicht der Betroffenen auf sich selbst extrem leicht zu beeinflussen zu sein. Das wiederum haben zwei kanadische Sozialpsychologinnen in einem eindrucksvollen Experiment gezeigt. Cathy McFarland und Celeste Alvaro forderten Testpersonen auf, sich an etwas Unangenehmes zu erinnern, das ihnen vor nicht allzu langer Zeit widerfahren war. Danach sollten sie erzählen, welche Eigenschaften sie heute haben und welche sie vor zwei Jahren hatten. Vor allem haben die Psychologinnen nach der persönlichen Weisheit und der inneren Stärke ihrer Probanden gefragt, als wie mitfühlend sie sich einschätzten und ob sie eine klare Richtung im Leben hatten. Die gleiche Frage sollten weitere Testpersonen beantworten, die zuvor aber gebeten worden waren, sich ein schönes Erlebnis im Geiste hervorzurufen.
Interessanterweise gab es keinen Unterschied zwischen den Gruppen, was die aktuelle Selbsteinschätzung betraf. Aber die Personen, die die unangenehme Erinnerung aufleben ließen,schätzten ihre Stärke und Widerstandsfähigkeit vor diesem Ereignis als besonders niedrig ein – und zwar umso niedriger, je stärker ihre Erinnerung ihr Selbstwertgefühl erschütterte. Sie würdigten ihre eigene Person in der Vergangenheit geradezu herab. Das posttraumatische Wachstum, von dem die Probanden überzeugt waren, war demnach nur das Ergebnis ihres besonders negativen Rückblicks auf sich selbst. Und es ließ sich manipulieren.
Noch etwas machte Tanja Zöllner und Andreas Maercker misstrauisch: Das Ausmaß des empfundenen posttraumatischen Wachstums hängt in erheblichem Maße davon ab, in welchem Land ein Mensch lebt. Üblicherweise ermitteln Psychologen, wie groß das posttraumatische Wachstum eines Menschen ist, mit Hilfe eines speziellen Fragebogens, des »Post Traumatic Growth Inventory« von Tedeschi und Calhoun. In diesem Fragebogen wird zum Beispiel nach dem »Gefühl von Selbstvertrauen« gefragt, nach dem »Gefühl der Nähe zu anderen« oder nach der »Entwicklung neuer Interessen«. Es werden maximal 84 Punkte vergeben. In den USA erreichen die meisten Menschen nach einer Krise wie dem 11. September ein Plus von 60 bis 80 Punkten; in Deutschland dagegen schaffen die Menschen gerade mal ein Wachstum von etwa 40 Punkten.
Tanja Zöllner erklärt sich das so: In den USA gehöre es zum »kulturellen Skript«, in der Krise immer auch eine Chance zu sehen, sagt sie. Deshalb geben Amerikaner brav an, genau so auch zu leben. Die Psychiaterin Jimmie Holland, die sich seit mehr als 30 Jahren mit dem Seelenleben von Krebspatienten beschäftigt, spricht gar von der »Tyrannei des positiven Denkens«. Das ist aber wahrscheinlich nicht der einzige Grund hinter dem explosionsartigen Gedeihen der persönlichen Reife unter US-Amerikanern. Womöglich ist es nicht nur ihre verinnerlichte soziale Pflicht, nach dem Desaster die Ärmel hochzukrempeln und die Mundwinkel nach oben zu ziehen: Aufgrund der eher optimistischen Grundhaltung in ihrer Kultur fällt ihnen das vielleicht auch wirklich leichter.
Selbsttäuschung oder echtes Wachstum?
Nutzen die Menschen, die davon berichten, nun also ihre Krisen für einen fulminanten Neustart oder reden sie es sich nur ein?
»Dass Menschen nach einem Schicksalsschlag etwa einen Sinn im Leben finden, den sie so nie gesehen haben, oder Beziehungen intensivieren, das gibt es gewiss«, sagt Tanja Zöllner. »Aber es gibt auch die andere Seite, die Illusion.«
Im ersten Fall reifen die Menschen wirklich durch den Bewältigungsprozesses; das posttraumatische Wachstum ist das direkte Ergebnis dessen, dass sie ihre Krise bewältigt haben. Im zweiten Fall aber ist die Einbildung, aus dem Unglück gestärkt oder gereift oder irgendwie glücklicher als früher hervorgegangen zu sein, ein Teil des Bewältigungsprozesses selbst.
Die Selbsttäuschung muss nichts Schlechtes sein: »Sich Illusionen über sich selbst zu machen, gehört für die meisten Menschen zum Alltag«, sagt Tanja Zöllner. »Sie stabilisieren sich so in einer schwierigen Umwelt.« Aber mitunter kann die Phantasievorstellung, ein psychischer Krisengewinnler zu sein, auch negative Folgen haben: »Das posttraumatische Wachstum wurde bisher sehr unkritisch gesehen, als positiv
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