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Resteklicken

Resteklicken

Titel: Resteklicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meschner Moritz
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selbst ein Rätsel. Vielleicht liegt es daran, dass meine Seele im Moment ebenso dunkel und siffig ist wie die in Eiche getäfelte Wand, an der übrigens mehr Firlefanz hängt als bei meiner Mutter im Flur. Bilder, Wimpel, Blumengestecke, Uhren, Trikots und Sinnsprüche à la »Diese Blume brauchst du nicht zu gießen, diese Blume lässt du einfach deine Kehle runterfließen!« vermengen sich mit den Tresenzombies zu einer wundervollen Hartz-IV-Melange, in der ich scheinbar das passende Zuckerstück darstelle.
    Was ich an solchen Kneipen am meisten mag, ist, dass niemand redet. Jeder blickt stumm in sein Glas oder an die Firlefanz-Wand oder in einen Abgrund. Auch meine Jungs haben schon seit ein paar Minuten nichts mehr gesagt, sie sind müde, ausgelaugt und kaputt, so wie ich, und alle drei sind zufällig auch gerade Single, so wie ich. Allerdings sind sie alles andere als traurig darüber.
    André hat seit seiner letzten Freundin immer mal hier und da was laufen, Max kriegt in der Regel sowieso alle Frauen ins Bett, nur hat ihn das so wählerisch gemacht, dass er selbst bei der aktuellen Miss Germany das Licht im Schlafzimmer dimmen würde, und Sascha trifft sich, wenn ich das richtig verstanden habe, morgen mit Simone.
    Ich weiß nicht, ob man von ihnen behaupten könnte, dass sie glücklich sind, auf jeden Fall aber okay drauf, keine lilagesichtigen Klappergestelle mit der Lebensfreude eines Hamlet – so wie ich.
    »Moritz, Alter, wir hauen rein«, sagt Max plötzlich. »Sei nicht böse.«
    »Ich bin auch platt«, sagt Sascha, und André nickt nur.
    »Kein Thema«, sage ich etwas eingeschnappt. »Ich trinke dann noch ein kleines Bierchen und gehe auch nach Hause.«
    Aus dem kleinen Bierchen werden zehn.
    Was früher mal »Freak Show« genannt und mit einem Wanderzirkus um die halbe Welt gekarrt wurde, ist heutzutage an jedem Kneipentresen zu finden und kostet keinen Eintritt. Höchstens den Verstand, um es mit den Worten eines bekannten PUR -Songs auszudrücken.
    Alle sind sie hier: die bärtige Dame, der tätowierte Gewichtheber, die übelriechende Tante ohne Zähne, die jedem ständig aus der Hand lesen will, und nur zwei Hocker neben mir sitzt mein alter Physiklehrer Herr Wimmer und starrt in sein Bier, so als würde sich auf dem Boden des Glases die Weltformel befinden.
    Eigentlich dachte ich immer, dass Lehrer keine Vornamen hätten. Herr Wimmer scheint da eine Ausnahme zu sein, denn die schlunzige Wirtin nennt ihn »Jürgen«.
    »Jürgen, soll ich dir noch eins machen?«
    Herr Wimmer sagt keinen Ton, sondern blinzelt einmal kurz. Das muss so eine Art Geheimsprache zwischen den beiden sein, denn nur ein paar Minuten später steht ein neues Bier vor ihm.
    Eigentlich dachte ich immer, dass Physiklehrer gar keinen Alkohol trinken. Stattdessen hätte ich bei Herrn Wimmer darauf getippt, dass er sich mal ein kleines Tütchen reinzieht, so zur Entspannung. Er war nämlich damals immer SEHR entspannt. Ganze drei Wochen hat er im Unterricht gefehlt, weil ihm beim Chillen in seinem Ohrensessel beide Beine gleich­zeitig eingeschlafen waren, und er sich, als er dann aufstehen wollte, schön hingepackt und BEIDE Arme gebrochen hat. Physikalisch beinahe unmöglich, aber er hat es geschafft. Mann, war der entspannt!
    Er muss so Mitte fünfzig sein, sieht aber mindestens doppelt so alt aus. Wie die Tapete hinter ihm, der ebenfalls die Farbe abgeblättert ist. Mann, ist der fertig!
    »Seine Frau ist abgehauen.«
    Die Wirtin hat wohl bemerkt, dass ich »Jürgen« die ganze Zeit anstarre.
    »Jetzt wohnt er alleine in einem großen Haus«, flüstert sie mir zu. »Meistens ist er aber hier. Krankgeschrieben.«
    »Aha«, sage ich und füge dann automatisch »Noch ein Kleines« hinzu.
    Auch die anderen Gäste wirken so, als hätte man sie krankgeschrieben. Bis ans Lebensende.
    Ein sehr fetter Mann versucht wohl gerade, einen Stich bei der zahnlosen Wahrsagerin zu landen. Er lächelt sie aus toten verquollenen Augen an und formuliert mühevoll etwas, das entfernt nach deutscher Sprache klingt. Dann weint er plötzlich. Die alte Hellseher-Schlampe lässt sich davon allerdings nicht rumkriegen und eiert lieber schnurstracks auf mich zu. Na toll. Ich tue so, als wäre ich in einen bedeutsamen inneren Monolog mit mir selbst verstrickt und blicke, nach Wimmer’schem Vorbild, in mein Bierglas, auf dessen Boden TATSÄCHLICH keine Weltformel zu finden ist.
    »Hallo, Schnucki.«
    Sie riecht nach nassem Bernhardiner.
    »Soll ich dir aus

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