Rette meine Seele - Vincent, R: Rette meine Seele
Doch das war ein Fehler. Statt des leisen Wimmerns, von dem Harmony gesprochen hatte, explodierte der Schrei mit aller Macht und sprengte mir die Kiefer auseinander.
Mein Gekreische erfüllte das Zimmer. Das ganze Haus. Es brachte meinen ganzen Körper mit seinen schrillen Misstönen zum Vibrieren, Tönen, die keine menschliche Stimme je zustande bringen könnte. Mein Kopf dröhnte, und mein Gehirn stand kurz vor dem Explodieren.
Ich schloss die Augen. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Als mich kühle, weiche Finger berührten, schlug ich die Augen auf. Harmony sprach auf mich ein, während das Zimmerum sie herum in einem Durcheinander aus Farben und Formen verschwamm. Ihr hübsches Gesicht war schmerzverzerrt, weil sich mein ohrenbetäubendes Geschrei wie mit Stahlklingen in ihr Gehirn bohrte. Für männliche Banshees mochte der Schrei wie ein bizarres, aber wunderschönes Lied klingen, dessen verführerischer Klang sie magisch anzog.
Weibliche Banshees dagegen hörten dasselbe wie ich. Und die Menschen. Ein bombastisches Getöse nämlich, von dem man taub oder verrückt werden konnte. Das schrill genug war, Glas zerspringen zu lassen.
Das Wohnzimmerfenster begann zu vibrieren. Harmony sprach weiter auf mich ein, und da wir beide derselben Spezies und demselben Geschlecht angehörten – auch wenn ich den genauen Zusammenhang noch nicht begriff –, konnte ich sie durch den Schrei hindurch hören, als kämen ihre Worte direkt aus meinem Kopf.
Beruhige dich. Atme tief durch. Schließ den Mund …
Ich klappte den Mund zu, dämpfte den Schrei, brachte ihn aber nicht völlig zum Erliegen. Jetzt war er in meiner Mundhöhle gefangen, zerrte an meinen Zähnen und sickerte zwischen meinen Lippen hervor wie ein gedoptes Stöhnen. Aber zumindest konnte ich Harmony jetzt ganz normal hören.
„Atme ruhig weiter, Kaylee“, sagte sie sanft und strich mir beruhigend über die Arme. „Schließ die Augen und saug ihn wieder hinein. Bis auf den letzten kleinen Tropfen.“
Dieser kleine Schritt kostete mich eine Menge Überwindung, weil ich Harmony dann nicht mehr sah und in meiner ganz persönlichen Dunkelheit gefangen war. Allein mit dem unbarmherzigen Gewimmer. Mit der Erinnerung an Emmas Tod, den ich anfangs für endgültig gehalten hatte.
Doch ich schaffte es.
„Gut so. Hol ihn zurück. Atme ihn tief ein. Stell dir vor, du würdest den Schrei schlucken – die Speiseröhre hinunter bis in dein Herz. Dort kannst du ihn freilassen. Lass ihn ruhig herumtoben. Sich gegen die Wände werfen. Das Herz eines Menschen ist zerbrechlich, nichts als dünne Gefäße und zarte Klappen. Aber das Herz einer Banshee ist gepanzert. Das muss es sein, damit wir überleben können.“
Ich stellte mir vor, mein Herz wäre mit Stahlplatten gepanzert. Ich entspannte die Arme und ließ die Hände in den Schoß sinken. Ich lauschte meinem Klageruf, zwang mich, jeden einzelnen der schrägen Töne anzuhören. Und Stück für Stück, unter Schmerzen, holte ich den Schrei zurück. Stopfte ihn ganz tief hinein in mein Innerstes.
Der Schrei passierte meinen Hals, rückwärts diesmal. Ich spürte ihn deutlich, und das war ein unheimliches Gefühl. Geradezu gruselig. Es fühlte sich an, als würde man Rauch schlucken, scharfkantigen Rauch. Stachelig, wie von Dornen umgeben.
Als ich alles bis auf einen hauchdünnen, kaum wahrnehmbaren Faden geschluckt hatte, breitete sich ein Lächeln von den Mundwinkeln her über mein gesamtes Gesicht aus. Nur ein zarter Laut war noch zu hören, so leise, dass ich es mir vielleicht nur einbildete. Ich hatte es geschafft! Ich hatte meinen Klageschrei durch Willenskraft abgerufen und auch wieder eingedämmt. Zufrieden ließ ich mich zurücksinken und schlug die Augen auf.
Was ich sah, ließ mir das Lächeln im Gesicht gefrieren. Harmony strahlte mich an. Ein paar lockige Strähnen umrahmten ihr Gesicht, und auf ihren Wangen zeigten sich die hübschen Grübchen. Doch ihre sonst so gesunde Gesichtsfarbe war jetzt fahl und grau, so wie alles andere auch. Ein trüber Nebelschleier hatte sich über meine Augen gelegt, während ich mitdem Klageschrei beschäftigt war, so als hätte ich die Augen weiter geöffnet, als es überhaupt möglich war.
Der Unterweltsnebel. Ein Schleier zwischen unserer Welt und der Unterwelt.
Wenn eine Banshee ihr Klagelied singt, kann sie – genau wie alle anderen Banshees in der Nähe – durch den Nebel sowohl die Welt der Menschen als auch diese andere, niedere Welt sehen. Oder
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