Rette meine Seele - Vincent, R: Rette meine Seele
musst. Je seltener die Unterweltler dich zu Gesicht bekommen, desto besser.“
Da war ich ganz ihrer Meinung. Aber eines interessierte mich doch. „Warum waren wir alleine?“
„Während du gesungen hast?“ Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich neben mich. „Zum einen waren wir nicht wirklich dort. Wir haben nur einen Blick riskiert. So wie im Zoo, wo man die Löwen durch eine dicke Glasscheibe beobachtet. Du kannst sie sehen, und sie dich auch, aber keiner kann diese Grenze überschreiten.“
„Die Unterweltbewohner können uns also sehen?“
„Ja. Wenn jemand da ist.“
„Und warum war niemand da?“
„Weil das ein Privathaus ist. Privathäuser befinden sich immer nur auf einer der beiden Ebenen. Öffentliche Gebäude mit viel Publikumsverkehr dagegen existieren in beiden Welten.“
„So wie meine Schule?“ Ich dachte an all die verrückten Kreaturen, die ich in der Turnhalle gesehen hatte. „Oder das Einkaufszentrum?“ Noch mehr schlechte Erinnerungen.
„Ja. Schulen, Büros, Museen, Stadien … Überall dort, wo sich oft viele Leute aufhalten.“
Mir kam ein neuer Gedanke. „Wie komme ich da eigentlich hin?“
„Gar nicht.“ Harmonys blaue Augen verdunkelten sich, und ihr Blick wurde hart. Obwohl sie achtzig Jahre Erfahrung darin besaß, ihre Gefühle zu verbergen, war es kaum zu übersehen, wie besorgt sie war. „Kaylee, du hast in der Unterwelt nichts zu suchen!“
Dein Wort in Gottes Ohr, dachte ich im Stillen.
„Ich weiß.“ Ich lächelte sie beruhigend an. „Ich will nur sichergehen, dass ich nicht aus Versehen dort lande, wenn ich das nächste Mal übe.“
Die Erklärung schien sie zu beruhigen, jedenfalls strahlten ihre Augen wieder. „Das passiert nicht. Es ist ein Unterschied, ob du nur durch das Glas hindurchsiehst oder hindurchgehst,und das liegt bei dir selbst. Du musst hinübergehen wollen , damit es passiert.“ Sie stand auf.
„Ist das alles?“, fragte ich erstaunt und beobachtete, wie sie in einer Schublade mit Küchenhelfern herumwühlte. „Nur weil ich es will, kann ich hinübergehen?“ So einfach konnte es unmöglich sein. So erschreckend einfach …
„Ja. Aber nur zusammen mit deinem Gesang.“
Natürlich! Ein Teil der Anspannung fiel von mir ab, und ich trank noch einen kleinen Schluck Milch. Ich wollte auf jeden Fall etwas für den Brownie aufheben.
Harmony zog Messer und Tortenheber aus der Schublade und zerteilte das Gebäck in große Stücke.
„Harmony?“
„Hm?“ Sie legte einen Brownie auf einen kleinen Pappteller.
So gern sie auch backte: Abspülen hasste sie.
„Wie kann jemand ohne Seele leben?“
„Wie bitte?“ Harmony wollte gerade einen Teigkrümel naschen und erstarrte mitten in der Bewegung, eine Hand in der Luft, in der anderen den Tortenheber. „Warum … Was geht hier vor, Kaylee?“ Sie kniff fragend die Augen zusammen, und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich sie so erschreckt hatte.
Also entschied ich, ihr die Wahrheit zu erzählen. Zumindest teilweise. „Nash und ich waren doch gestern auf dem Konzert von Eden in Dallas.“
„Ja, ich weiß.“ Der ängstliche Ausdruck erstarb. Sie belud den zweiten Teller mit einem extragroßen Brownie und stellte ihn vor mich auf den Tisch, ohne Gabel. Bei den Hudsons aß man Brownies so, wie es sich gehörte: mit den Fingern. Meine Tante hätte einen Anfall bekommen, aber ich ließ mich gerne eines Besseren belehren.
„Es war heute Morgen in den Nachrichten.“ Sie setzte sichneben mich. „Willst du damit sagen, dass Eden ohne Seele gestorben ist?“
Ich biss herzhaft in meinen Brownie und spülte ihn mit einem Schluck Milch hinunter. „Ja. Es war komisch. Sie ist auf der Bühne umgefallen, aber ich dachte, sie ist nur ohnmächtig, weil ich keine Todesahnung hatte. Da war keine Todeswolke, und der Schrei blieb auch aus. Todd hat behauptet, dass sie tot ist, und siehe da: Ein paar Sekunden später floss dieses komische dunkle Zeug aus ihrem Körper. Viel zu dunkel und zu schwerfällig für eine Seele.“
„Wahrscheinlich Dämonenatem“, sagte Harmony kauend. „Das hat Todd auch gesagt.“ Ich spielte mit meinem halb vollen Glas Milch. „Dass Eden ihre Seele an einen Hellion verkauft hat.“
Harmony strich sich beiläufig eine Locke aus der Stirn. „Das ist die einzige Erklärung, die mir einfällt. Die Seele eines Menschen kann ihm nicht genommen werden, solange er lebt. Man kann sie erst stehlen, wenn er gestorben ist …“ Oder umgebracht wurde, so wie
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