Rette meine Seele - Vincent, R: Rette meine Seele
wir von hier aus losgehen.“
„Weil die Häuser der Menschen in der Unterwelt nicht existieren?“ Das hatte sie mir am Sonntag selbst erklärt.
„Das stimmt, aber die Bewohner der Unterwelt haben auch Häuser. Überschreitest du die Grenze, ohne zu wissen, wo du herauskommst, landest du vielleicht irgendwo, wo du nicht hinwillst.“
Das klang nach der Untertreibung des Jahrhunderts. „Aber wir könnten doch erst einen Blick in die Unterwelt werfen undsehen, was sich dort befindet.“
„Ja, so ungefähr.“ Mein Interesse schien Harmony aufzumuntern. „Wenn du von hier in die Unterwelt blickst oder umgekehrt, siehst du beide Realitäten wie zwei Schichten übereinanderliegen. Wenn man das nicht gewöhnt ist, kann es ziemlich verwirrend sein, die beiden Ebenen auseinanderzuhalten. Es passiert leicht, dass man etwas Wichtiges übersieht. Oder etwas Gefährliches.“
„Woher weißt du dann, dass es hier sicher ist?“ In gespieltem Erstaunen riss ich die Augen auf. „Du hast es schon mal gemacht, oder? Und wo kommen wir raus?“
Harmony stellte ihr Glas ab und sah mir fest in die Augen. „Ja, ich habe es gemacht, als wir hierhergezogen sind. Weil ich wissen wollte, ob wir hier im Notfall sicher sind. Ich wiederhole es in regelmäßigen Abständen, um sicherzugehen, dass sich daran auch nichts geändert hat.“
„Was könnte sich denn ändern?“
„Die Bedürfnisse der Bevölkerung verändern das Landschaftsbild dort genauso wie hier“, erklärte sie vage.
„Und, ist es noch sicher?“
Meine Wissbegierde brachte sie zum Lächeln. „Ja, es ist sicher.
Zumindest vergleichsweise. In der Unterwelt ist dieser Ort“, sie breitete die Arme in einer Geste aus, die das gesamte Haus einschloss, „unbewohnt. Aber dort ist alles anders, Kaylee. Wie ein verzerrtes Spiegelbild unserer Welt. Alles ist irgendwie schräg und verdreht, als hätte sich jene Welt noch einmal verschoben, nachdem alles fertig gebaut worden war.“
Ich wusste genau, was sie meinte, auch wenn ich noch nie in der Unterwelt gewesen war. Aber ich hatte die Gestalten gesehen, die dort lebten. Auch sie waren schief und unproportioniert, so ähnlich wie die gestreckten oder gestauchten Umrisseeines Menschen, der sich auf dem Rummelplatz in einem Zerrspiegel betrachtet. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie die Welt aussah, in der diese Gestalten lebten.
Die bloße Vorstellung davon hätte mir persönlich auch gereicht. Aber mit Fantasie allein konnte ich die Seelen der Page-Schwestern nicht retten. Geschweige denn, mich aus dem Haus schleichen, wenn mein Vater zu spät ins Bett ging …
„Und was ist mit unserem Haus? Hast du es dort schon mal versucht?“ Mein Herz klopfte vor Angst, als ich das sagte. Harmony würde die Frage durchschauen. Sie würde begreifen, was ich vorhatte. Sie würde es Dad erzählen, und dann wären wir geliefert. Addy würde ohne ihre Seele sterben, genau wie Regan zu einem späteren Zeitpunkt.
Doch Harmony legte nur den Kopf schief und musterte mich stirnrunzelnd. „Einmal, ja. Wieso?“
Blitzschnell überlegte ich mir eine Antwort, die zumindest halbwegs der Wahrheit entsprach: „Die Vorstellung, dass andere Leute – irgendeine gruselige Unterweltfamilie – in einer Zweitversion unseres Hauses leben, macht mir Angst. Was, wenn bei uns mal ein Notfall eintritt und ich die Welten wechseln muss? Ich würde lieber vorher wissen, was mich erwartet. Und dass es sicher ist.“ Ich griff ganz bewusst ihre Wortwahl auf – mit Erfolg. Harmonys Blick hellte sich auf.
Ich musste ihrer Gelassenheit Respekt zollen. Und ihrem Durchhaltevermögen. Harmony hatte zwei schlimme Schicksalsschläge erlebt und sich jedes Mal wieder aufgerappelt und ihr Leben in die Hand genommen: einmal, nachdem ihr Mann gestorben war, und das zweite Mal nach dem Tod ihres ältesten Sohnes. Trotzdem war sie immer für diejenigen da, die sie brauchten. Sie hielt eine schützende Hand über Nash und mich und damit im weiteren Sinne auch über Emma,Addy und Regan.
„Mach dir darüber mal keine Sorgen.“ Sie reichte mir noch einen Keks, als könne eine Extraportion Zucker alles wiedergutmachen. „Die Unterwelt ist längst nicht so dicht besiedelt wie die unsere. Bloß weil hier ein Haus steht, muss es dort nicht auch eins geben. Bei dir zu Hause sieht man nur Felder und ein paar weit entfernte Gebäude in Richtung Innenstadt. So ähnlich wie hier.“
Sehr gut. Ich biss in den Cookie, um meine Erleichterung zu verbergen.
„Aber das
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