Rette meine Seele - Vincent, R: Rette meine Seele
mich nicht umsonst davor gewarnt, dass es irgendwann zu leicht werden würde. Mein Bein tat so weh, dass ich mich nur schwer konzentrieren und mir auch nicht wirklich wünschen konnte, dorthin zurückzukehren, wo ich mir die Verletzung zugezogen hatte. Doch irgendwann wurde mein Wunsch, die Sache endlich abzuschließen, so groß, dass er den Schmerz verdrängte. Ich musste unbedingt noch einmal in die Unterwelt zurück.
Als ich einen Aufschrei hörte, schlug ich die Augen wieder auf. Regan starrte mit offenem Mund auf die Glastüren hinter mir. Die Unterweltsversion von Prime Life hatte schon geöffnet, und dem Lärm nach zu urteilen schien überhaupt nie geschlossen zu sein.
„Wo sind wir hier?“ Regan trat auf die Tür zu und nahm die Sonnenbrille ab. Schön und gut, dass sie endlich wieder klar im Kopf war, aber beim Anblick ihrer unheimlichen weißen Augen jagte mir jedes Mal wieder ein Schauer über den Rücken. Hier in die Unterwelt passten sie jedoch deutlich besser ins Gesamtbild.
Nash dachte offenbar genau dasselbe. Er sah Regan an, die die Sonnenbrille in der Hand hielt, dann Addy mit ihren Kontaktlinsen und schließlich mich mit meinen langweiligen blauen Augen. „Ich glaube, du bist hier ohne Kontaktlinsen sicherer, Addy“, sagte er. „Regan, gib Kaylee doch bitte deine Sonnenbrille.“
„Warum?“
„Weil die meisten der Viecher hier drin …“, ich deutete hinter mich, weil ich mich nicht traute, einen Blick in die Höhle des Löwen zu werfen, „… dich in Ruhe lassen, wenn sie wissen, dass du keine Seele besitzt. Aber meine Augen würden mich sofort verraten.“
Keine der beiden widersprach, und ich fühlte mich schlecht,weil ich ihnen verschwiegen hatte, dass einige dieser Kreaturen uns auch ohne Seele liebend gerne fressen würden. Ich fühlte mich jedoch nicht schlecht genug, um sie mit der vollen Wahrheit zu konfrontieren und zu riskieren, dass sie auf und davon rannten.
Regan reichte mir die Sonnenbrille und half dann ihrer Schwester mit den Kontaktlinsen. Nash hatte nichts, um seine Augen zu bedecken, und so vertraute ich darauf, dass er schon wusste, was er tat. Schließlich hatte er mehr Erfahrung mit der Unterwelt als ich. Als alle so weit waren, drehte ich mich endlich um.
Was ich sah, war schlimmer als der Schmerz, der bei jeder noch so kleinen Bewegung durch mein Bein schoss.
Ich war noch nie bei Prime Life gewesen, aber ich verwettete mein gesamtes Taschengeld darauf, dass der Weltenanker das Gebäude komplett hierher transferiert hatte. Mitsamt der Einrichtung, den Marmorböden, dem Steinbrunnen und was es sonst noch alles gab. Nur die Lebewesen, die es bevölkerten, hatten nichts mit ihren Menschenkollegen gemein.
Wir sollten nicht hier sein, dachte ich, als Nash die Tür öffnete.
Addy und ich folgten ihm. Nur Regan brauchte einen kleinen Schubs, was ich ihr nicht verübeln konnte.
Ich konzentrierte mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Schritt – autsch – Schritt – autsch. Ich versuchte, den Schmerz wegzuatmen, und vermied beharrlich den Blickkontakt mit den Gestalten im Raum. Zumindest mit denen, die überhaupt Augen hatten.
Regans Atem ging immer schneller, bis sie regelrecht keuchte. Ich nahm kurz ihre zitternde Hand und drückte sie aufmunternd. Es war alles in Ordnung. Dann zwang ich mich, erhobenenHauptes weiterzugehen, ohne etwas Bestimmtes zu fixieren. Mit dem gesenkten Blick outete ich mich ja praktisch schon als Beute.
Und ich wollte ganz sicher nicht als Beute enden.
Neben dem Brunnen im Foyer standen zwei kopflose, menschenähnliche Gestalten. Eine davon war ein Mann, die andere eine Frau; die Frau beugte sich vor und rührte mit der Hand in dem zähflüssigen, übel riechenden Wasser. Ich wusste genau, wie sie von vorne aussehen würden, denn ich kannte diese Spezies von Emmas Todestag: Die Gesichter saßen mitten auf der Brust, als hätten sie ihre Köpfe verschluckt, die jetzt aus dem Körper auszubrechen versuchten.
Eines aber war mir neu, weil damals alles unter einem grauen Schleier gelegen hatte: Ihre Haut war glatt und zartrosa, wie die von Neugeborenen. Sofern diese Kreaturen überhaupt ganz normal geboren wurden.
„Geht einfach weiter“, flüsterte Nash, der selbst ziemlich angespannt wirkte. „Todd wartet bei den Fahrstühlen auf uns. Wir sind gleich da.“
Und tatsächlich. Neben einer Reihe völlig normal aussehender Fahrstühle stand Todd. Er hatte die Arme verschränkt und eine starke, aber verschlossen und
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