Rettende Engel (German Edition)
einer Blüte angenommen hatte, los und griff nach einem blauen Buntstift. Sie schob die Origami-Figuren beiseite und begann auf dem Bild, das darunter zum Vorschein kam, langsam und methodisch den Himmel auszumalen.
„Tut mir leid”, flüsterte Kaha Sandra zerknirscht zu. Die zuckte die Achseln und verstaute die unbenutzten Papierquadrate in ihrer Umhängetasche.
Ächzend stand Kaha auf. Doch Tim wollte ihn nicht gehen lassen. Er klammerte sich an Kahas Bein und jammerte: „Nein. Nein.” Tränen rannen über sein Gesicht.
Kaha versuchte, Tims Hände von seinem Hosenbein zu lösen, doch es gelang ihm nicht. Er scheute sich, zu rabiat vorzugehen.
„Ich hole Hilfe”, sagte Sandra und zwinkerte ihm zu.
Kurz darauf hielt die herbeigeholte Erzieherin Tim auf dem Arm und sprach beruhigend auf ihn ein.
„Versprich ihm, dass du wiederkommst”, flüsterte Sandra Kaha ins Ohr. Und das tat er. Zu seinem eigenen Erstaunen meinte er es auch und fühlte sich sogar gut dabei.
„Ich muss ohnehin am Ball bleiben”, sagte Kaha kurz darauf zu Sandra. „Schließlich müssen wir wissen, was Miriam gesehen hat. Insofern konnte ich Tim ruhig versprechen, ihn noch einmal zu besuchen.”
Kaha hatte Sandra in ein Café eingeladen, das er gegenüber des Kinderheims entdeckt hatte. Sie hatte zunächst gezögert. „Als Wiedergutmachung dafür, dass ich es gerade verbockt habe”, hatte er gesagt und sie angelächelt. Das hatte sie offenbar überzeugt.
„Kaha“, fragte Sandra jetzt, während sie Zucker aus einem Tütchen in ihren Kaffee rieseln ließ, „ist das türkisch?”
„Nein”, kam verlegen die Antwort. „Es ist eine Abkürzung. Von Karlheinz: KH.”
„Aha”, sagte Sandra.
„Der Name kam mir als Kind unheimlich spießig vor. Was heißt kam? Ich finde den Namen immer noch blöd.”
„Ach, Quatsch”, sagte Sandra und lachte. Dann fügte sie hinzu: „Obwohl. Kaha klingt natürlich obercool.”
Sie sprachen über dies und das. Darüber, dass sie beide nicht gerne Süßes aßen (und deshalb keinen Kuchen bestellt hatten), über die Musik, die unaufdringlich im Hintergrund zu hören war, (brasilianisch) und über Urlaubsträume (sie einigten sich auf Surfen auf Hawaii).
„Wie bist du eigentlich bei der Polizei gelandet?”, fragte Sandra, nachdem die Bedienung für jeden eine zweite Tasse Kaffee gebracht hatte.
„Ich war im Polizeisportverein. Die hatten eine erstklassige Abteilung für diverse Kampfsportarten. Die Typen, die da unterrichteten, waren ganz anders, als ich mir Polizisten vorgestellt hatte.“ Kaha rührte nachdenklich in seinem Kaffee. „Amerikanische Fernsehserien sind natürlich auch Schuld. Den Job umwehte so ein Hauch von Abenteuer. Na ja, Dumme-Jungen-Träume.”
„Wieso denn? Das finde ich überhaupt nicht. Schau dich doch an. Aus dem Jungen von damals ist doch ein überaus nützliches Mitglied der Gesellschaft geworden”, sagte Sandra mit freundlicher Ironie.
Kaha seufzte. „Vielleicht hast du in gewisser Weise sogar Recht. Dass aus mir was geworden ist, wenn auch nur ein einfacher Bulle, dass ich überhaupt überlebt habe, das ist bei Eltern wie meinen ein kleines Wunder.”
Er dachte an seinen zornigen, prügelnden Vater zurück und an den ebenso zornigen, rebellischen Jungen, der er gewesen war. „Im Grunde verdanke ich das drei Menschen: meiner Tante Iris, meiner Grundschullehrerin Frau Lehmann und Gerd, dem Sozialarbeiter. Mann, der Bursche hat nie aufgegeben. Wenn man so will, waren sie meine Schutzengel.”
Wie kam er jetzt auf Schutzengel? Kahas Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. „Deshalb bewundere ich so, was du machst“, sagte er. „Du bewirkst etwas im Leben von so vielen Kindern.“
Sandra winkte ab. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, verdrehte Kaha die Augen und stieß hervor: „Oh Mann, das ist ja echt peinlich, was ich hier absondere. Wie in so einer Talkshow. Tut mir leid.“
„Stimmt doch gar nicht.” Sandra schüttelte den Kopf und holte ihr Origami-Papier hervor. Schnell faltete sie einen weißen Kranich. „Hier, für dich. Der Kranich ist in Japan das Symbol für ein langes, glückliches Leben”, sagte sie und lächelte Kaha an.
Als Kaha kurz darauf im kühlen Hausflur des Altbaus, in dem sich seine Wohnung befand, seinen Briefkasten öffnete, fand er darin neben Werbezetteln ein zusammengefaltetes, liniertes Blatt Papier. Er klappte es auf und fand die Unterschrift: Cem. Während er die Treppe zu seiner Wohnung hinaufstieg,
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