Rettende Engel (German Edition)
seine Fragen nicht beantworten. Wovon Iris lebte, wusste er nicht. Obwohl er später manchmal dachte, dass sie sich vielleicht prostituiert hatte. Zwei- oder dreimal mussten sie sich nämlich vor einem Mann verstecken. War er ein Freier? Ihr Zuhälter? Ein aufdringlicher Ex-Freund? Jedenfalls ging seine ausgeflippte Tante oft mit ihm in die Bücherei und las ihm vor. Am liebsten waren ihnen beiden die Geschichten von Astrid Lindgren.
„Kinder von Bullerbü?” Chris hatte das Buch in Kahas Hand entdeckt. „Gute Wahl. Meine beiden mögen ganz besonders Pippi Langstrumpf. Aber sie sind auch etwas älter.”
Kaha ließ sich gerne ablenken. Er vertiefte sich mit Chris in das reichhaltige Angebot und verließ den Laden schließlich mit einer bunten Einkaufstasche aus Papier, die zwei liebevoll verpackte Geschenke enthielt: ein Bilderbuch für Tim über Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei und deren Fahrzeuge und ein Astrid Lindgren-Buch mit vielen bunten Bildern über ein Mädchen namens Lotta für Miriam.
„So, so, diesen Papierkranich hat Sandra für dich gefaltet?”, fragte Chris wenig später, während Kaha die Buchgeschenke in einer Schublade seines Schreibtischs verstaute. Chris konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Läuft da was zwischen euch, Karlheinz?”
„Bullshit”, sagte Kaha und schloss die Schublade so energisch, dass es knallte und Chris zusammenzuckte. Kaha schaute auf seine Uhr. „Wir sollten uns außerdem auf den Weg machen. Diese so genannten Rettenden Engel wollen in einer halben Stunde mit ihrer Aktion beginnen.”
„Wieso? Ist doch nichts Schlimmes. Sandra scheint doch sehr sympathisch zu sein.” So schnell ließ Chris sich nicht vom Thema abbringen.
„Also erstens ist sie viel zu jung für mich. Mindestens zehn Jahre.”
„Stimmt. Mit 40 bist du schon ein alter Klappergreis.”
„Und bestimmt hat sie schon einen Freund”, sagte Kaha und ging Richtung Tür. „Kommst du? Außerdem stecken wir noch mitten in den Ermittlungen.”
Ungeduldig schaute Kaha zu Chris hinüber, der in aller Seelenruhe seinen PC runterfuhr, seine Sachen zusammensuchte und in sein Jackett schlüpfte.
„Ach, komm. Es würde dir guttun”, sagte Chris. „Klar, mit dem Jungen hast du Mist gebaut. Aber es ist doch nicht so, als ob Sandra eine Verdächtige wäre. Im Gegenteil: Sie ist eine Art Kollegin, eine von den Guten.“
18
„Und da sind sie auch schon: Hans Neumann und seine Rettenden Engel”, stöhnte Chris, als er vor dem Jugendamt die Schar der Demonstranten erblickte. „ Jede Wette, dass das Ärger gibt.” Auf den Schildern, die Einzelne in die Höhe reckten, waren Fotos zu sehen (offensichtlich Schnappschüsse). Darüber oder darunter standen in riesigen schwarzen Buchstaben Sätze wie: „Dieser Mann schlägt seine Kinder.“ „Stefanie und David hungern – mitten in Deutschland“.
„Die Presse lässt sich so was natürlich auch nicht entgehen.” Kaha betrachtete stirnrunzelnd die Handvoll Reporter, die eifrig interviewten und schrieben. Zwei Fotografen und eine Kamerafrau knipsten und filmten, was das Zeug hielt.
Immer mehr Passanten blieben stehen, um sich das Spektakel anzuschauen oder gleich mitzudiskutieren. Die vier Streifenpolizisten, die abgestellt waren, um für Ordnung zu sorgen, hatten alle Hände voll zu tun, einige besonders engagierte Demonstranten vom Eingang des Jugendamts zurückzudrängen.
Kaha und Chris sahen sich das Ganze von der gegenüberliegenden Straßenseite aus an, um sich zunächst einen Überblick zu verschaffen.
„Der da vorn, mit der braunen Jacke”, sagte Kaha und zeigte auf einen rundlichen Mann Mitte 30. „Das muss Ralf Bongard sein.”
„Sieht eigentlich ganz harmlos aus”, meinte Chris.
Im selben Moment kam Bewegung in die Gruppe.
Ein junges Paar war aus einem roten, mitgenommen wirkenden Kleinwagen ausgestiegen. Die Frau hatte glattes strähniges Haar, aus dem die Blondierung schon zehn Zentimeter herausgewachsen war. Sie trug ein kränkliches Kleinkind auf dem Arm.
Mit den Worten: „Das sind auch wieder so welche”, stürzte Bongard sich auf sie. „Das Kind ist halb verhungert, das sieht doch jeder.”
Nicht nur einige seiner Getreuen waren ihm gefolgt. Neugierige Umstehende und die Presse wollten sich das Schauspiel nicht entgehen lassen und hatten das Paar inzwischen fast völlig umringt.
Zeit einzugreifen. Ohne ein Wort zu wechseln, rannten Kaha und Chris gleichzeitig los. Kaha riss den linken Arm hoch
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