Rettende Engel (German Edition)
ordentlich eingerichteten Raum mit zwei Kinderbetten. „Wieso ist das denn nicht gut genug? Schließlich sind wir die Großeltern. Aber die vom Jugendamt haben ja noch nie geholfen. Nicht der reguläre Sozialarbeiter jedenfalls. Als der mal krank war, hat eine Frau sich gekümmert. Da war’s besser. Die ist einfach unangemeldet hingegangen oder hat Rena aus einer Kneipe geholt. Bestimmt ist jetzt wieder dieser Mann zuständig und verschleppt alles unnötig.”
Die beiden Kommissare hatten sich in ihr Schicksal ergeben und ließen die Tirade schweigend über sich ergehen. Kaha schaute sich unauffällig in dem kleinen, quadratischen Flur um. Auf einem Tischchen entdeckte er ein Flugblatt. Es kündigte für den frühen Nachmittag eine Aktion der „Rettenden Engel“ vor dem Jugendamt an. Er nahm das orangefarbene Blatt Papier und studierte es. Am unteren Rand stand in kleiner Schrift: „V.i.S.d.P. Hans Neumann”.
„Was hat Ihr Mann denn mit diesen ‚Rettenden Engeln’ zu tun?”, fragte er Inge Neumann, die inzwischen ihre Rede beendet hatte und erschöpft schwieg.
Sie holte Luft. „Die Rettenden Engel? Das ist eine Gruppe, die sich für vernachlässigte Kinder einsetzt.” Trotzig sah sie Kaha. „Wie Miriam und Tim. Hans ist einer der Gründer und der Vorsitzende.”
Während sie zu ihrem Dienstwagen zurückgingen, zog Chris sein Smartphone hervor und tippte etwas ein. „Diese Aktion vor dem Jugendamt sollten wir uns unbedingt anschauen”, sagte er und öffnete die Beifahrertür. „Am besten nehmen wir gleich ein paar uniformierte Kollegen mit. Diese Rettenden Engel sind nicht ohne. Ziemlich militant, wie’s scheint. Offenbar finden sie, dass das Jugendamt und wir, also die Polizei, nicht genug tun, um manche Kinder zu schützen. Gegen Hans Neumann liegt nichts vor. Aber ein gewisser Ralf Bongard ist schon ein paar Mal aufgefallen.” Chris setzte sich und schob den Text auf dem Bildschirm mit seinem Zeigefinger weiter. „Seine Ex-Frau hat eine Anzeige wegen Stalking wieder zurückgezogen. Dann ist da eine Anzeige von jemand anderem wegen Nötigung”, las er vor. „Beleidigung. Tätlicher Angriff. Den anscheinend gegen einen Vater, der sein Kind verprügelt hat.“ Chris wiegte den Kopf. „Hm. Eine Geldstrafe bis jetzt. ” Er suchte weiter. „Das war’s.”
„Noch”, sagte Kaha düster und startete den Motor. Er hasste es, wenn Amateure sich in Polizeiangelegenheiten einmischten.
17
Doch schon eine Viertelstunde später hatte sich Kahas Laune entschieden gebessert. Er hatte Chris überredet, mit ihm ein Spielzeuggeschäft aufzusuchen. „Aber nicht von so einer Ami-Kette. Was Vernünftiges”, hatte er gesagt. „Schließlich kann ich nicht mit leeren Händen auftauchen, wenn ich Miriam und Tim wieder besuche.”
Jetzt stand er ratlos inmitten des großen Angebots und fragte: „Was mögen Kinder in dem Alter denn so?”
Chris zeigte Kaha verschiedene Dinge, die seinen Töchtern gut gefielen – und ihm auch. Kartenspiele, Wasserpistolen und eine Kugelbahn. Spaßeshalber ließen sie die Eisenbahn, für die eine Modellstrecke samt Berg und Tunnel, Bahnhof und Dorf aufgebaut war, eine Runde drehen. Und dann noch eine und noch eine.
„Dafür sind sie wohl noch zu jung”, seufzte Kaha schließlich.
„Deine finanziellen Möglichkeiten dürfte es auch ein wenig übersteigen”, sagte Chris augenzwinkernd.
Kaha fiel ein, dass er Tim aus Bilderbüchern vorgelesen hatte. Vielleicht wäre das auch eine gute Möglichkeit, Miriam aus der Reserve zu locken. In der Kinderbuch-Abteilung entdeckte er „Die Kinder von Bullerbü“ von Astrid Lindgren. Daraus hatte seine Tante ihm immer vorgelesen.
Tante Iris. Sie war damals noch ziemlich jung. Seine Mutter war erst 20, als er geboren wurde, und Tante Iris war nur knapp zwei Jahre älter. Sie ging mit ihm ins Kino und manchmal, wenn sein Vater sehr betrunken war, hatte sie Kaha mitgenommen in ihre kleine Wohnung. Das Klo war auf der halben Treppe. Aber die Wohnung seiner Tante besaß in seinen Augen etwas Abenteuerliches und Magisches, denn sie war farbenfroh und im Hippiestil eingerichtet. Mit Räucherstäbchen und allem Drum und Dran. Manchmal kam seine Mutter auch mit. Aber meistens hatte sie zu viel Angst, dass das seinen Vater nur noch wütender machen würde.
Dann verschwand Tante Iris plötzlich. Er konnte nie herausfinden, warum oder wohin. Er musste neun oder zehn Jahre alt gewesen sein. Seine Mutter konnte (oder wollte?)
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