Rettungskreuzer Ikarus Band 020 - Sankt Salusa
inne. Sein Novize sah ihn betreten an, sichtbar auf der Suche nach dem Grund
für den Tadel.
»Wieso ist das schlecht, Herr?«
Uhul setzte sich an den großen Tisch, der in der Mitte des Wachgebäudes
stand. Die meisten Milizionäre waren außerhalb, auf Wachgang, oder
im oberen Stockwerk auf Beobachtungsposten.
»Tokal, Neugierde treibt jeden an. Der Drang nach Wissen wird nur durch
Regeln und Gesetze im Zaum gehalten, und manchmal nicht einmal dadurch. Er ist
in uns wie ein natürliches Gesetz, ein Instinkt, dem wir folgen müssen.
Ich bin davon nicht befreit, und es gehört zum Leben. Wenn ein Gildenhandwerker
mit einem neuen Werkzeug auf den Markt kommt, erfüllt mich ebenfalls Neugierde.
Doch du willst ein Staubdiener werden. Deine Pflichten sind mannigfaltig, manchmal
mehr, als man zu tragen imstande ist. Wirst du gar Erster Staubdiener, bleibt
dir noch weniger Zeit, es scheint, als sei dein Leben angefüllt von ständigen
Pflichten.«
»Ich weiß, Uhul«, bestätigte Tokal. »Ich habe all
das von dir gelernt.«
»Nein, offenbar noch nicht«, korrigierte ihn sein Mentor. »Du
hast nicht gelernt, dass es einen Unterschied zwischen Neugierde und Interesse
gibt. Neugierde ist primitiv, wie ein Drang, den es zu befriedigen gilt. Du
siehst eine Frau, gerade frisch aus der Metamorphose, riechst den Duft ihrer
Bereitschaft zur Kopulation, schaust auf ihre Bewegungen, gar nicht einmal bewusst
aufreizend, und schon spürst du diesen Drang in dir, zu ihr zu gehen und
bei ihr zu liegen.«
»Aber das ist etwas anderes!«, protestierte Tokal. Uhul stellte mit
Zufriedenheit fest, dass sein Novize bei allem Respekt jederzeit bereit war,
deutliche Widerworte zu geben.
»Nein, das ist nichts anderes«, wies ihn Uhul zurecht. »Neugierde
stiehlt dir deinen Tag. Du hast die schöne Frau gesehen, jung und anziehend?
Ihr Bild hat dich von deinen Pflichten abgehalten, und der Gedanke an sie wird
dir den ganzen Tag über Hitze bereiten. Wie kannst du dich da konzentrieren
und deinen Aufgaben nachgehen? Neugierde ist ein Trieb, eine ewig unstillbare
Gier. Du bist intelligent, Tokal, und verständig, bei dir ist diese Gier
besonders ausgeprägt. Du musst sie kanalisieren, verstehen, umsetzen in
ein nützliches Instrument. Dieses Instrument heißt ›Interesse‹.
Du entwickelst ernsthaftes Interesse an Dingen, die sich für deine Pflichten
als wichtig, als entscheidend festhalten lassen. Interesse ist kontrollierte,
gesteuerte und gebändigte Neugierde. Interesse hilft dir, Neugierde lenkt
dich ab. Du sollst nicht neugierig auf das Heiligtum sein, denn was nützt
dir der erworbene Eindruck als bloße Befriedigung deiner Gier? Entwickelst
du aber Interesse, nützt dir das Wissen, das du nun erlangst, in der Erfüllung
deiner Pflichten.«
Tokal wollte etwas erwidern, senkte dann aber nachdenklich den Kopf.
Uhul erhob sich wieder.
»Du wirst das später verstehen. Komm jetzt, wir haben zu tun.«
Offensichtlich erleichtert, die morgendliche Lehrstunde einigermaßen überstanden
zu haben, folgte ihm der Novize aus dem Gebäude.
Der Schrein stand in seiner ganzen Pracht in der Morgensonne. Vor ihm die große
Tribüne für den Gottesdienst, das eigentliche Bauwerk umgeben von
einem hohen Gatter. Niemand durfte ohne Berechtigung in das Innere, zum eigentlichen
Heiligtum, vordringen.
Uhul und Tokal besaßen dieses Recht. Der Milizionär am Haupttor nickte
ihnen nur schläfrig zu, als sie das hölzerne Portal passierten. Tokal
hielt inne, als er nun erstmals das Gebäude direkt vor sich sah. Zögerlich
streckte er seine Hand aus, um das glatte, fugenlose Material der Wand zu berühren.
Wieder sprach Ehrfurcht aus seinen Gesten.
»Woraus ist dies gebaut, Herr?«
»Material der Götter. Ich persönlich denke ja, dass es Ähnlichkeit
hat mit den Eisenplatten, die die Schmiede kürzlich an den Außenmauern
der Stadt angebracht haben. Aber diese hier sind ganz anders gearbeitet, und
ich sehe nicht, ob sie an etwas wie Stein befestigt sind oder sich selbst tragen.«
»Es hat keine Fenster!«
»Nur am Tag der Prozession öffnet sich das Auge der Alten Völker
und spricht zu den Staubdienern. Das sagt zumindest die Legende. Ich habe es
noch nicht erlebt.«
»Was sagt es?«
»Nicht alles ist verständlich, heißt es. Manches Mal jedoch
übermittelt es neue Erkenntnisse, die das tägliche Leben verbessern.
Die Tradition sagt, dass auch
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