Rettungslos
Gefühl sagt etwas anderes: Nie hätte sie
gedacht, dass sie sich in einer bedrohlichen Lage so passiv verhalten würde.
»Was soll ich denn tun?«, murmelt sie vor sich hin. »Ohne Anouk wäre es anders, aber so bleibt mir keine Wahl.«
Plötzlich spürt sie eine Berührung und stöÃt einen Schreckensschrei aus.
»Keine Panik!« Kreuger legt ihr beide Hände auf die Schultern. Er muss merken, dass sie am ganzen Körper zittert. »Warum erschrickst du so? Ich wollte dir nur was sagen. Heute Nacht schlaft ihr beide nicht im Keller.« Es hört sich an, als wäre das eine besondere Gunst. »Anouk kann in ihrem Zimmer schlafen. Und du schläfst bei mir«, fügt er hinzu.
Lisas Hoffnungen weichen neuerlichem Entsetzen. Sie ringt um Fassung, aber vermutlich durchschaut er sie â das beweisen sein boshaftes Grinsen und die Tatsache, dass er ihr die Hand auf den Po legt.
»Ich werde am Wochenende fahren«, sagt er und greift fester zu. »Euch beide nehme ich nicht mit, das kompliziert die Sache nur. Spätestens am Sonntagabend verabschiede ich mich, und bis dahin machen wirâs uns schön, einverstanden?«
30
Die Matratzen liegen wieder an ihrem Platz in Anouks Zimmer und im Gästezimmer. Anouk freut sich, Lisa dagegen hätte lieber weiterhin im Keller übernachtet. Es ist Mittwochabend, und wenn Kreuger tatsächlich am Sonntag geht, bleiben noch vier lange Nächte, in denen sie ihm zu Willen sein muss.
Ich muss hier weg, denkt sie plötzlich. Wenn er nicht geht, dann ich. Mit Anouk!
Noch in dieser Nacht, wenn er schläft, will sie versuchen zu fliehen.
Den Abend über beobachtet sie ihn unauffällig. Ihr Festnetztelefon trägt er nicht mehr bei sich, vermutlich hat er es irgendwo versteckt. Aber ihr Handy könnte wieder in seiner Hosentasche sein und eventuell auch der Haustür- und Autoschlüssel. Falls nicht, würde das die Sache erschweren, und sie müssten durch Anouks Fenster entkommen. In Gedanken sieht Lisa sich und das verängstigte Kind die Regenrinne entlang bis zum flachen Garagendach balancieren. Allein würde sie das
halsbrecherische Manöver, ohne zu zögern, wagen, aber kann sie es Anouk zumuten?
Ihr bleibt keine Wahl. Sie kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er am Sonntag sang- und klanglos verschwindet. So entgegenkommend er sich momentan auch gibt, er ist und bleibt ein unberechenbarer Krimineller. Und dass er vor Gewalt nicht zurückschreckt, hat sie bereits schmerzhaft zu spüren bekommen. Als sie sich fügte, änderte er sein Verhalten, aber darauf kann sie sich nicht verlassen. Womöglich ist alles nur Berechnung. Sie kocht für ihn und steht ihm im Bett zur Verfügung â besser hätte er es gar nicht treffen können. Erst am Sonntag wird sich herausstellen, was wirklich Sache ist, und dann könnte sie es bitter bereuen, ihre Chance zur Flucht nicht genutzt zu haben.
Mit verschränkten Armen steht Lisa vor dem Fenster. Ja, sie will versuchen, heute Nacht mit Anouk zu entkommen!
Als sie ihre Tochter ins Bett bringt, zieht sie ihr einen warmen Flanellpyjama an und hängt ihren Fleecepulli auÃen an den Kleiderschrank, damit er in der Nacht griffbereit ist. Sie stellt Anouks Turnschuhe vors Bett und blickt sich suchend um. Ist noch irgendetwas zu bedenken?
Ein Seil, geht es ihr durch den Kopf, dann könnte ich Anouk anseilen, für den Fall, dass sie ausrutscht.
Wenn nur alles gut geht! Niedergeschlagen setzt sie sich auf die Bettkante.
»Was ist denn, Mama?«, fragt das Mädchen. »Warum hast du meinen Pulli rausgehängt?«
»Einfach so«, sagt Lisa. »Gute Nacht, mein Schatz. Ist es nicht fein, dass du wieder in deinem Bett schlafen kannst?«
Anouk dreht sich auf die Seite. »Wann geht der Mann denn nun weg?«, murmelt sie, bereits im Halbschlaf.
»Bald«, verspricht Lisa und küsst sie auf die Wange.
Â
Sein Arm umfasst sie wie eine eiserne Klammer. Lisa liegt auf der Seite, dreht ihm den Rücken zu und starrt vor sich hin. Dass sie nackt ist, beschämt sie zutiefst, und fast noch mehr, dass Kreugers Hand auf ihrer rechten Brust liegt. Ihr Körper schmerzt von seinen Bissen. Sie hat alles über sich ergehen lassen und war froh, dass die Dunkelheit ihre Tränen verbarg.
Mühsam kämpft sie gegen die aufsteigende Ãbelkeit an. Hoffentlich muss sie sich nicht übergeben und macht
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