Return Man: Roman (German Edition)
blieb. Einmal losgelassen war er nicht mehr zu bändigen. Er nahm seine Brüder so hart ran, dass sie zum Schluss völlig erschöpft und blutig waren. Oft hatte er Jiang– der arme Jiang, der Langsamste, den man am leichtesten ausmanövrieren und übertölpeln konnte– zu Boden geworfen und so getan, als ob er ihn fressen wollte, während die anderen Jungen den siegreichen Tiger bejubelten. Und dann hatte Wu ihm mit der großmütigen Geste des Siegers wieder auf die Beine geholfen, und sie waren zur Wasserpumpe gegangen, um den Schmutz aus Jiangs aufgeschürften Ellbogen zu waschen. Anschließend waren sie zum Abendessen in Bao Zhis Hütte zurückgekehrt.
Und nach all diesen Jahren war aus dem Spiel nun Ernst geworden.
In ungefähr dreißig Metern Entfernung sah er auf der Böschung den gefangenen Marco, der mit Handschellen an ein Quad gefesselt war. Ein abgerissener bärtiger Mann in zusammengewürfelter Bekleidung hockte neben dem Amerikaner.
Wer war dieser Feind? Dass er kein richtiger Soldat war, stand schon einmal fest– Wu war sich sicher, dass er keiner regulären Armee angehörte. Allem Anschein nach war der Mann ein Deserteur. Miliz?
Ja. Ein Extremist in einer Privatarmee, vermutete Wu; schon vor der Auferstehung war Amerika von solchen Spinnern geplagt worden; von solchen Typen, deren Braut ihr Gewehr war.
Doch dieser Mann hatte es speziell auf Marco abgesehen– hatte ihn entführt. Und Wu hatte vor ein paar Augenblicken gehört, dass der Soldat Roger Ballards Namen erwähnt hatte.
Welche Miliz verfügte über ein solches Wissen, das sonst nur hochrangigen Geheimnisträgern vorbehalten war?
Und plötzlich wusste Wu Bescheid. Er spähte zu dem Quad und musterte es gründlich. Es war ein Modell » Eber« mit verbesserter Geländegängigkeit und Spezialausstattung für den militärischen Einsatz. Und dort, am Kühlergrill, wie er schon vermutet hatte…
…prangte ein Pferdeschädel. Er war stark ausgebleicht, und der Unterkiefer fehlte.
Ein Reiter, sagte Wu sich. Er spannte die Kiefermuskeln an. Das MSS hatte ihm beim Briefing auch ein Profil der Reiter präsentiert– Überlebenskämpfer, Anarchisten, eine postapokalyptische Armee, die sich irgendwo in den Wäldern von Kalifornien verborgen hielt. Die meisten von ihnen waren ehemalige Soldaten, gut trainierte und tödliche Kampfmaschinen; viele waren auch Aussteiger mit einem langen Vorstrafenregister, die froh waren über Amerikas Niedergang. Sie hatten die Evakuierung ignoriert, lebten auf dem Land– als Jäger und Sammler– und betätigten sich als Grabräuber der Zivilisation: Sie sammelten Bargeld und Schmuck, Waffen und Medikamente und was sie sonst noch alles in verlassenen Häusern und bei ausgebleichten Skeletten fanden. In Mexiko gab es einen großen Schwarzmarkt für diese fragwürdige Handelsware. Die südlichen Grenzen waren leicht zu überwinden. Wie schon vor der Auferstehung klafften große Lücken in der Grenzsicherung, und die Reiter verdienten gut damit, geraubtes Gut nach Mittel- und Südamerika zu transportierten: die Regionen, die von der Auferstehung noch nicht heimgesucht worden waren.
Wu runzelte die Stirn. Die Reiter waren gefährlich. Und zu allem Übel hatten sie auch noch Kontakte ins Ausland; das MSS hatte sie mit Terrororganisationen in Kasachstan und im Iran in Verbindung gebracht. Und jetzt waren sie auch noch auf der Suche nach der Ballard- DNA . Vor Wus geistigem Auge erschienen gesichtslose Terroristen, die im Dunkel lauerten und verschlüsselte Funksprüche aus den USA decodierten. Oder noch schlimmer: Sie hatten Informationen, die MSS -Agenten nach Peking weitergeleitet hatten, abgefangen und verfügten nun auch über das Wissen, das China sich durch das Hacken amerikanischer Großrechner angeeignet hatte.
Unterm Strich hatten die Terroristen bisher aber keine entscheidenden Erkenntnisse gewonnen, sagte er sich– so wichtige Details wie Ballards Aufenthalt in Sarsgard waren ihnen unbekannt. Für die Reiter stand es fest, dass Marco sie zu ihm führte. Sie waren wie Hyänen, die die Beute eines Löwen umkreisten und hofften, einen Happen zu schnappen. Sie wollten so lange warten, bis die Supermächte einen Impfstoff entwickelt hatten, und ihn dann stehlen und an ihre Terroristenfreunde verkaufen. Reiter waren Söldner– aber sie waren hoch motiviert und verstanden ihr Handwerk.
Diesen Feind zu besiegen würde schwierig werden. Sehr schwierig.
Was bedeutete, dass Wu sich nicht noch mehr Fehler wie den
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